„Frau Sievers, ich …“
„Das war eine ziemliche Sauerei, mein Kind.“ Elfriede war einer der schwierigeren Fälle. „Damals.“
Lisa sah einen Herrn am Nachbartisch winken und nickte ihm zu. „Kann ich jetzt ihren Becher …“
„Erpresst haben die sie, bis sie verkauften.“ Elfriede starrte auf die Fotos. Oder durch die Fotos in eine lange vergangene Zeit. „Alle fünf.“
Lisa griff nach dem fast leeren Fruchtbecher. Elfriede packte ihre Hand und sah sie in einer Mischung aus Schlitzohrigkeit und Misstrauen an.
„Du denkst, ich bin eine schwierige alte Schachtel, nicht wahr?“
„Nein, nein“, beeilte sich Lisa, „aber vielleicht sollten sie das alles lieber der Polizei …“
„Ach Mädchen, weißt du wie lange das her ist? 1938 fing es an. Die letzten 43. Kein Polizist kräht heute mehr danach.“ Elfriede löste ihren Griff und Lisa zog ihre Hand weg.
„Ich meine doch, was Sie über die Fotos wissen. Die Namen“, sagte Lisa. „In dem Artikel steht, dass man sich melden soll, wenn man die kennt.“ In ihren Augenwinkeln sah sie wieder den Herrn winken. Diesmal schon ungeduldiger.
„Das kommt der schlaue Kommissar schon von selbst drauf“, erklärte Elfriede und ein kleines Leuchten huschte durch ihre Augen. „Im Übrigen kann das jeder nachlesen. Im Stadtarchiv.“ Sie stellte ihren Becher auf Lisas Tablett und erhob sich ächzend. „Den kannst du jetzt mitnehmen. Ich finde allein hinaus.“ Zielstrebig wackelte sie zur Tür. Lisa sah ihr nach.
„Fräulein!“ Der winkende Herr war jetzt leicht rot im Gesicht. Lisa strich das Geld, das Oma Sievers auf den Tisch gelegt hatte, in ihr Portemonnaie. Nahm den Bestellblock und ging zu ihm hinüber.
„Sie wünschen?“
„Na endlich!“
Pappnase! Das dachte Lisa natürlich nur. Mit einem äußerst zuvorkommenden Lächeln.
Elfriede kicherte leise und schüttelte den Dutt.
Mit solchen alten Schrauben wie mir, hat man's nicht immer leicht. Aber warum sollte man auch?
Langsam setzte Elfriede Fuß vor Fuß. In ihrem Alter brauchte sie nichts mehr zu überstürzen. Die schnellen Jahre waren vorbei. Ja, damals nach dem Krieg, 1945. In jenem Sommer war sie sieben geworden, am 29. September, und musste noch eine Weile die Schulbank drücken. Später als sie siebzehn war, bekam sie eine Stelle im Vincenzkrankenhaus, als Wäscherin. Dann Oskar kennengelernt. Oskar Sievers, den Studenten aus Berlin, der sich im Historischen Museum Bresel beworben hatte. Oskar geheiratet am 24. 9. 1959, das würde sie nie vergessen. Mit ihm auf Wolken geschwebt, dann die Wohnung in der Vincentinerstraße bezogen und über die Jahre abbezahlt.
Und Oskar nichts erzählt. Kein Sterbenswort. Von ihrem kleinen Geheimnis. Nein, es war kein kleines, es war ein schreckliches Geheimnis. Aber erzählt hatte sie nichts! Weil … Elfriede mochte an dieser Stelle nicht weiterdenken. Und als sie es ihm endlich erzählen wollte, da war es zu spät. Da starb Oskar. Vor zwei Jahren.
Elfriede blickte erschrocken auf. Hier war es schon. Die Nummer 23, Schulstraße. Löwensteins hatten hier gewohnt. Bis zum 26. 6. 1943. Dann hatten sie verkauft, verkaufen müssen, und waren nach Amerika verschwunden, wie Oskar rausgefunden hatte. Severin Löwenstein und … wie hieß noch seine Frau? Elfriede schaute an der Fassade hoch. Richtig, Rebecca hieß sie.
Ein Bulli fuhr an ihr vorbei Richtung Breselner Landstraße. Schwarz, mit einer dunkelroten Aufschrift: SICHERistSICHER . Drinnen saß ein Bär am Steuer. Daneben ein Kleiner. Elfriede winkte. Leise summte sie eine Melodie. Das Lied von der Lili Marleen.
SICHERistSICHER .
Elfriede blieb vor der Schaufensterscheibe stehen. ELEKTRO-WATT stand darauf. Sie blickte die Straße hinunter. Das Augsburger Tor war wie üblich vom Feierabendverkehr verstopft. Kurz vor der Kreuzung räumte Martina Dall die Auslagen vom Bürgersteig zurück in ihren Laden. Es war fünf vor sechs. Martina weigerte sich, längerer Öffnungszeiten einzuführen, wie es bei den meisten Supermärkten inzwischen üblich war. Noch weigerte sie sich.
Elfriede starrte in die beiden schreckgeweiteten Augen. Unter dem Schriftzug ELEKTRO-WATT stand Klaus Watt und betete vermutlich für einen pünktlichen Feierabend. Als Elfriede den Laden betrat, verabschiedete er sich gerade von dem Glauben, dass Gebete erhört wurden.
Gegen Viertel nach Sechs hatte Klaus Watt immerhin verstanden, dass Elfriede unmöglich einen PM2-Näher meinen konnte, sondern allerhöchstwahrscheinlich einen MP3-Player. Klaus Watt litt unter Bluthochdruck und bekam bei Anspannung immer einen hochroten Kopf. Nach der Farbe seiner Wangen zu urteilen war er, als er ein kleines schmales Gerät vor Elfriede auf die Theke legte, schon in einem recht bedenklichen Druckbereich angekommen.
„Sie meinen vielleicht so etwas.“
Elfriede beäugte das Teil von allen Seiten. Schließlich – es waren weitere Minuten des ersehnten Feierabends verstrichen – nickte sie. „Ja, so was in der Art. Wissen Sie, das hab ich neulich …“
Klaus Watt starrte in die untergehende Sonne, die sich in den Fenstern der Häuser auf der anderen Straßenseite spiegelte. Während Elfriede ausführlich darlegte, bei wieviel Blagen sie das schon mal gesehen hatte, morgens, wenn sie zum Markt ging, oder nachmittags, wenn sie dies und das … „Ach wissen Sie, die haben ja alle so was.“
„Ja“, sagte Klaus Watt mit zusammengebissenen Zähnen. „Heutzutage haben alle Kids so was. Bestimmt auch Ihre Enkel!“
Tja, leider wieder eine Falle.
„Junger Mann!“ Elfriede stemmte die Hände in die Hüften. Klaus Watt schwor sich, ab sofort den Laden fünf Minuten früher zu schließen. Zu verriegeln!
„Junger Mann, ich habe gar keine Kinder. Also auch keine … nun?“ Elfriede sah ihm auffordernd ins Gesicht.
Klaus Watt glühte. „Auch keine … MP3-Player?“
„Keine Enkel!“
„Oh“, machte Klaus Watt hilflos und spürte, wie zwei Schweißtropfen seine Nase entlang liefen. Einer links und einer rechts. „Das tut mir leid.“
„Wieso?“
„Äh … das sagt man doch so …“
„Sie sollten vorsichtiger sein, mit dem, was man so sagt!“
Klaus Watt wusste, dass man inzwischen mit seiner Birne den Marktplatz hätte beleuchten können.
„Den nehme ich“, ordnete Elfriede an. „Kann man damit auch Musik hören, wenn diese Knöpfe nicht in den Ohren stecken?“
„Ja“, schwitzte Klaus. „Drehen Sie halt voll auf. Und gehen Sie nah dran. Dann hören Sie auch …“
„Schon verstanden“, sagte Elfriede. „Wieviel?“
Lisa hatte es grade noch pünktlich geschafft. Martina Dall war so dankbar, dass Lisa ihr half. Seit ihr Mann diesen Kletterunfall hatte und den Fuß in Gips, musste sie die Tische allein schleppen. Morgens raus aus dem Laden und vor der Tür aufbauen und abends wieder rein. Und Martina hatte es doch so im Kreuz. Lisa ließ sich heute mit Chips und Schokolade auszahlen. Jo sollte doch gebührend empfangen werden, heute Abend. Und dafür mussten Lisas Wohlfühl-Vorräte noch aufgefüllt werden.
Erleichtert schloss Frau Dall gegen halb sieben die Ladentür und beobachtete dabei misstrauisch Elfriede Sievers, die gerade vorbei schwankte. Die wollte doch wohl nicht noch … nein. Außerdem war die so schwer damit beschäftigt, sich irgendwas in die Ohren zu stopfen, dass sie sogar zu grüßen vergaß.
Martina bedankte sich noch ein weiteres Mal überschwänglich, und Lisa versprach, morgen wieder vorbeizukommen. Um kurz vor sechs. Dann verließ sie den Laden durch eine Seitentür und ging heimwärts. An ELEKTRO-WATT vorbei, wo Klaus Watt panisch den Riegel vor die Tür schob, als er ihre neugierigen Blicke sah. Vor der Polizeiwache traf sie Kommissar van der Velde.
Читать дальше