"Ich möchte ihnen etwas zu essen und zu trinken bringen," sagte Anna mit leicht zitternder Stimme, "und dann möchte ich mich erkundigen, wie es ihnen geht. Meine Oma hat mir erzählt, was ihnen passiert ist."
Dann stellte sie den Korb auf den Tisch und ging langsam rückwärts zur geschlossenen Tür zurück, als suchte sie daran einen Halt.
"Das finde ich aber nett. Und vor allem, dass sie gekommen sind. Damit hätte ich nicht gerechnet. Ich glaubte, Adam würde mir die Butterbrote bringen, wie es ihre Oma angekündigt hat," sagte Baptiste, der etwas verlegen wirkte.
"Was machen sie nur für Sachen, Baptiste. Sie hätten tot sein können." sagte Anna besorgt und hoffte, dass keine peinliche Gesprächspause entstehen würde. Um eine solche zu vermeiden, fügte sie noch die Frage hinzu: "Haben sie Schmerzen?"
"Nein, nein," beruhigte Baptiste sie. "Auch meine Beule merke ich kaum noch."
"Soll ich einen Lappen anfeuchten und die Beule kühlen?"
"Das hat ihre Oma schon getan," antwortete Baptiste, "danke."
Anna blickte nach rechts und links und sagte dann wie in Gedanken mit leiser Stimme: "Mein Gott, bin ich schon lange nicht mehr in diesem Zimmer gewesen. Als Kind habe ich hier öfter mit meinen Freundinnen gespielt. Dieser Raum und der Boden nebenan waren unsere Abenteuerspielplätze, besonders bei schlechtem Wetter."
Und als Baptiste nichts darauf sagte, sie nur mit großen Augen ansah, ergänzte sie, um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen: "Haben auch sie früher einen ähnlichen Spielplatz gehabt?"
"Nein, leider nicht," antwortete Baptiste in seinem französischen Akzent. "Meine Eltern hatten nur eine Mietwohnung. Aber wir haben als Kinder viel draußen auf der Strasse gespielt. Auch das hat Spaß gemacht. So viel Platz wie sie hatten wir allerdings nicht: Der große Hof, die Diele, die Wohnung ihrer Eltern, die Scheunen und der Stall. Ich kann mir schon vorstellen, dass das alles für sie ein Spielparadies war. Aber auch ich habe trotz des begrenzten Raumes in der Wohnung meiner Eltern und auf der Strasse eine schöne Kindheit gehabt, an die ich mich oft und gern erinnere."
Anna hörte interessiert zu und war wieder von dem Akzent des Franzosen fasziniert. Dann schwiegen beide einen Moment. Baptiste blickte Anna an, die seinem Blick dieses Mal nicht auswich. Sie überlegte krampfhaft, wie sie das Gespräch fortsetzen konnte. Dann wurde ihr bewusst, dass sich in dem Raum kein Ofen befand.
"Dieses Zimmer kann ja nicht beheizt werden. Es ist doch viel zu kalt hier drin. Ich werde meinen Vater bitten, dass er einen Ofen aufstellen lässt. Das Abzugsrohr könnte durch das Dach gelegt werden."
"Nein, nein, Anna, das ist im Augenblick nicht nötig. Es wird ja allmählich Sommer," meinte Baptiste.
"Aber im Winter wird es hier zu kalt sein," äußerte Anna besorgt. "Bis dahin muss ein Ofen aufgestellt werden. Ich werde das veranlassen."
"Es freut mich, dass sie sich um Adam und mich sorgen. Wirklich, das freut mich sehr.“
Dann schwiegen beide eine Weile und blickten sich an.
"Schlafen sie und Adam in ihrer Kleidung?" wollte Anna danach wissen, weil sie erst jetzt bewusst wahrnahm, dass Baptiste in seiner leicht verschlissenen Uniform auf dem Bett lag.
"Nein, wir schlafen in unserer Unterwäsche. Die reicht aus. Frieren tun wir nicht. Das Oberbett ist ziemlich dick," gab Baptiste zur Antwort.
"Aber das geht doch auf Dauer nicht," ereiferte sich Anna. "Ich werde meine Mutter fragen, ob wir irgendwo im Haus noch zwei Nachthemden haben, die nicht benötigt werden, für sie und Adam. Ich bin sicher, dass wir noch zwei finden."
"Danke, Anna," reagierte Baptiste darauf etwas verlegen lächelnd. "Aber ich möchte nicht, dass sie deshalb mit ihrem Vater Ärger bekommen. Vielleicht ist er damit nicht einverstanden."
"Das wird er schon sein. Da bin ich mir ziemlich sicher. Im Übrigen braucht er nichts davon zu erfahren. Ich bespreche das mit meiner Mutter," erklärte Anna.
"Ihre Mutter wird bestimmt nichts dagegen haben. Davon bin ich überzeugt."
Dann schwiegen beide wieder, bis Anna das Gespräch mit der Ankündigung fortsetzte, dass sie nun wieder gehen wolle: " Fritz wird heute Abend noch nach ihnen schauen, vielleicht auch Marie."
Anna, die immer noch mit ihrem Rücken zur Tür stand, drehte sich um und öffnete die Tür. In diesem Augenblick hörte sie Baptiste ihren Vornamen sagen. Anna blieb stehen, drehte sich wieder um und blickte Baptiste an, der mit leiser Stimme sagte: "Ich werde morgen wieder arbeiten können. Da bin ich mir sicher. Ich freue mich schon darauf."
Dann fuhr er nach einer kurzen Pause, langsam sprechend, fort: "Ich bin froh, dass ich im Stall ausgerutscht bin, Anna."
"Warum denn das? Sie dürfen so etwas nicht sagen, Baptiste," entgegnete Anna etwas verunsichert.
"Doch," antwortete der Franzose, "wenn ich nicht gestürzt wäre, hätten sie mich hier nicht besucht. Ich bin sehr glücklich darüber, dass sie gekommen sind."
Anna wusste darauf nichts weiter zu sagen, als verlegen die kurze Frage zu stellen: "Ja?"
"Ja, wirklich," antwortete Baptiste und fügte noch hinzu: "Merci, Anna."
Anna drehte sich erneut um, stieg die Treppe hinab und begab sich auf dem selben Weg, den sie gekommen war, in die Küche zurück. Ihre Oma und Marie Tegtmeier hatten inzwischen den Tisch abgedeckt und das benutzte Geschirr gesäubert. Fritz und Adam waren schon nicht mehr in der Küche. Sie waren in den Stall gegangen, um dort noch einige Arbeiten zu erledigen.
Anna wünschte ihrer Oma und Marie Tegtmeier eine gute Nacht und suchte dann ihre Wohnung auf. Sie hatte auch an diesem Abend das Bedürfnis, allein zu sein. Aber sie war es nicht. Was sie auch tat, immer wieder tauchte Baptiste vor ihren Augen auf, und immer wieder hörte sie seine Stimme.
"Mein Gott, was ist das nur? Es darf doch so nicht weitergehen," dachte sie.
Sie fühlte sich elend, und sie wurde von einem schlechten Gewissen geplagt, wenn sie für eine kurze Zeit mal an ihren Mann dachte. Sie war sich bewusst, dass sie ihm in Gedanken untreu war, und sie betete, dass Gott sie von ihren Gefühlen für Baptiste befreien möge. Sie war verzweifelt und glücklich zugleich, aber sie hatte auch Angst vor ihren Empfindungen, weil sie wusste, dass sie als verheiratete Frau für Baptiste, den Gefangenen und angeblichen Feind, solche Gefühle nicht haben und schon gar nicht zeigen durfte.
Der Abend erschien ihr wieder einmal unendlich lang, und als sie gegen zehn Uhr zu Bett ging, konnte sie zunächst nicht einschlafen. Und als sie schließlich doch vom Schlaf übermannt wurde, schlief sie unruhig. Sie wurde wiederholt wach, und dann tauchte immer wieder Baptiste vor ihren Augen auf, und sie hörte seine ruhige Stimme mit dem für sie angenehmen französischen Akzent. Dann kam der nächste Morgen. Und sie war beruhigt, als Baptiste wieder zum Frühstück erschien, und sie war froh, dass er anschließend die ihm aufgetragenen Arbeiten verrichten konnte.
Es war die Zeit, in der es von Tag zu Tag abends länger hell blieb. Anna liebte die langen, hellen Abende, und an sonnigen Tagen beobachtete sie manchmal vom Hof aus, wie die Sonne glutrot hinter den Feldern ihres Vaters jenseits der Landstraße langsam hinter dem Horizont verschwand. Danach war noch fast eine Stunde lang das Abendrot am Himmel zu sehen, das allmählich immer schwächer wurde und einen neuen sonnigen Tag ankündigte.
Es hatte in diesem Jahr schon viele Sonnentage gegeben, und Anna hatte deshalb die Vermutung, dass der bevorstehende Sommer schön werden würde.
Ein warmer, sonniger Tag war auch der erste Mai 1941. Die beiden Kastanienbäume auf dem Hof standen in voller Blüte. Der Baum zwischen der Leibzucht und der Landstraße hatte dunkelrote Blüten, die an kleine Tannenbäume erinnerten, und die des Baumes links neben der Ausfahrt waren von weißer Farbe. Auch die Obstbäume auf dem Grundstück rund um die Hofgebäude und auf den Nachbargrundstücken standen bereits in voller Blüte, in diesem Jahr auffallend früh, wie Anna meinte. Aber das lag wohl an dem angenehm warmen Wetter, das im April geherrscht hatte. Insbesondere bei Sonnenschein boten die vielen Blüten ein prächtiges Farbenspiel, an dem sich Anna nicht satt sehen konnte.
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