Karl Brammer hatte seine Hakenkreuzfahne bereits am Abend des 19. April gehisst. Am Vormittag des 20. April hing sie jedoch schlapp am Mast herunter, da kein Wind wehte. Am Nachmittag dieses Tages wollte er zusammen mit seiner Frau nach Grafenhagen radeln und an einer Führergeburtstagsfeier der SA teilnehmen^
So gegen elf Uhr, als er gerade von der Diele kommend auf den Hof trat, kam seine Schwester aus Brinke mit ihrem Fahrrad auf den Hof gefahren. Sie war zum Einkaufen in Grafenhagen gewesen und wollte auf dem Rückweg nach Hause kurz ihre Mutter und die Familie ihres Bruders besuchen. Das tat sie mindestens einmal in der Woche, auch wenn sie nicht nach Grafenhagen musste.
"Guten Morgen, Karl," begrüßte sie ihren Bruder und stieg vom Fahrrad. "Ist zu Hause alles in Ordnung?"
"Morgen," reagierte Karl Brammer nur kurz. Er wusste, dass seine Schwester ihn nie mit Heil Hitler, dem sogenannten deutschen Gruß, begrüßen würde.
"Hier ist alles wie sonst. Mutter geht es so weit ganz gut, und Arbeit gibt es auch genug. Aber das weisst du ja."
"Bist du mit den Arbeiten der beiden Gefangenen zufrieden?" fragte Caroline Neuwinger ihren Bruder und blickte dabei zu Adam und Baptiste hinüber, die zuvor die Schweineställe ausgemistet hatten und nun dabei waren, den vom betonierten Weg vor dem Stallgebäude mit einer Schiebkarre auf die Mistkuhle gekippten feuchten Mist zu verteilen. Caroline Neuwinger hatte die beiden Gefangenen schon vor einigen Wochen begrüßt und sich kurz mit ihnen unterhalten. Sie hatte von beiden einen guten Eindruck gewonnen.
"Der Polacke macht seine Arbeit gut, manchmal sogar sehr gut. Er ist willig und für die Landwirtschaft gut zu gebrauchen. Der Franzmann bemüht sich zwar; aber ich habe den Eindruck, dass ihm die Arbeiten auf einem Hof nicht liegen. Na ja, er ist Lehrer von Beruf und eben kein Bauer. Aber insgesamt kann ich über ihn nicht klagen."
"Das ist gut," freute sich Caroline Neuwinger und fügte dann vorsichtig ermahnend hinzu: "Lass dich bloß nicht dazu hinreißen, sie anzuschreien oder gar zu schlagen, wenn sie mal etwas falsch gemacht haben oder mal nicht so arbeitswillig sind, wie du dir das wünscht. Die würden dir das nie vergessen. Mit einem sachlichen Gespräch lässt sich fast alles regeln, besonders dann, wenn sie einsichtig und im Grunde willig sind. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Das solltest du immer bedenken, Karl."
"Warum sagst du mir das?" fragte Karl Brammer überrascht.
"Weil ich gehört habe, dass der Pächter Meyer-Wallbaum vom Gut Brandenburg schon wiederholt den Hilfspolizisten Heitscher aus Grafenhagen hat kommen lassen, wenn er Schwierigkeiten mit seinen Kriegsgefangenen oder Fremdarbeitern hatte. Heitscher, auch ein Parteigenosse von dir, hat die renitenten oder vermeintlich renitenten Personen dann vor den Augen anderer auf dem Hof mit seinem Gummiknüppel verhauen. Jedenfalls habe ich das schon von mehreren Seiten gehört, sogar von einem, der auf dem Gut arbeitet. Ich gehe deshalb davon aus, dass es stimmt, was erzählt wird. Und ich möchte nicht, dass auch du so etwas tust."
"Ich habe auch davon gehört. Du musst dabei aber berücksichtigen, dass auf der Brandenburg etwa zwanzig Fremdarbeiter und Kriegsgefangene eingesetzt sind. Bei einer solchen Anzahl ist in der Regel mindestens einer dabei, der nicht spurt oder gar andere gegen die Anweisungen der Vorgesetzten aufhetzt. Gegen solche Leute muss hart durchgegriffen werden, notfalls muss ihr Widerstand auch durch Schläge gebrochen werden. Würde Meyer-Wallbaum nichts gegen diese Personen unternehmen, könnte er seinen Betrieb stilllegen. Die Gefangenen und Fremdarbeiter würden ihm dann auf der Nase herumtanzen und nur noch das tun, wozu sie gerade Lust hätten. Er muss sich den arbeitsunwilligen und renitenten Leuten gegenüber durchsetzen, zumal es sich um Gefangene und Fremdarbeiter handelt, die die Anweisungen ihrer Vorgesetzten widerspruchslos zu befolgen haben. Ich habe nie gehört, dass auch deutsche Arbeiter geschlagen wurden. Sie würden wahrscheinlich sofort entlassen, wenn sie nicht spurten."
"Trotzdem, Karl, tu du so etwas nicht. Wir wissen nicht, was mal wird. Es könnte sein, dass die geschlagenen Leute einmal Gelegenheit bekommen, sich zu rächen. Sie werden erniedrigende Schläge vor anderen nie vergessen. Davon bin ich überzeugt. Im Übrigen halte ich Meyer-Wallbaum, der ja ebenfalls dein Parteigenosse ist, für einen arroganten Menschen, der seine Macht ausspielt und keinen Widerspruch duldet. Und der Heitscher ist aufbrausend und rechthaberisch. Ich habe den Eindruck, dass er Freude daran hat, andere zu verprügeln. Er hat sich schon als junger Mann oft und gern geschlagen. Du kannst dich doch sicher noch daran erinnern, dass er auf Festlichkeiten im angetrunkenen Zustand oft andere angepöbelt hat und dass er erst zufrieden war, wenn es zu einer Schlägerei gekommen war. Später in der SA konnte er sich dann so richtig austoben, weil er sich nicht zu rechtfertigen brauchte, wenn er Kritiker oder vermeintliche Gegner des Nationalsozialismus, insbesondere Sozis und Kommunisten, verprügelt hatte. Nein, nein, mir sind beide, Meyer-Wallbaum und Heitscher, nicht gerade sympathisch."
"Ich habe bisher keinen Grund gehabt, gegen den Polacken und den Franzmann energisch vorzugehen. Und ich hoffe, dass ich dazu auch in Zukunft keine Veranlassung haben werde," erklärte Karl Brammer zu den Äußerungen seiner Schwester. "Heitscher ist inzwischen älter und ruhiger geworden. Außerdem muss er als SA-Mann bei Auseinandersetzungen jetzt vorsichtiger sein, jedenfalls dann, wenn er eine Uniform trägt und sein Kontrahent nicht gerade ein Gegner von uns ist. Ob er als Hilfspolizist gleich schlagen muss, wenn Meyer-Wallbaum ihn um Hilfe bittet, weiß ich nicht. Darüber kann ich mir kein Urteil erlauben, weil mir nicht bekannt ist, was da im Einzelnen vorgefallen ist. Im Übrigen sehe ich wahrscheinlich beide heute Nachmittag bei der Führergeburtstagsfeier im Rathaussaal in Grafenhagen."
Dann fügte er hinzu: "Aber lass uns in die Küche gehen. Mutter ist schon dort und schält Kartoffeln."
Als Karl Brammer und seine Schwester, die inzwischen ihr Fahrrad gegen den Kastanienbaum gelehnt hatte, der zwischen der Leibzucht und der Landstraße stand, gerade die Diele betreten wollten, kam Fritz Tegtmeier aus der Leibzucht, ging strammen Schrittes auf den Fahnenmast zu, knallte die Hacken seiner Schuhe zusammen, hob den rechten Arm zum Gruß und rief erkennbar nur scheinbar ernst mit lauter Stimme, wobei er Hitlers harte Aussprache nachahmte: “'Hei Hei Heil Hi Hi Hitler. Gra Gra Gratuliere zum Ge Ge Geburtstag, mein Füh Füh Führer."
Die beiden Gefangenen beobachteten das Schauspiel amüsiert, und Caroline Neuwinger schmunzelte, während Karl Brammer zunächst verduzt war und dann seinen Knecht anraunzte: "Was soll der Quatsch?"
Fritz Tegtmeier nahm seinen rechten Arm herunter und begrüßte Karl Brammers Schwester mit den Worten: "Morgen, Ca Ca Caroline."
Dann wandte er sich an den Bauern: "Da da das war kein Qua Qua Quatsch, Ka Ka Karl. Wenn u u unser ge ge geliebter Füh Füh Führer das von dir ge ge gehört hä hä hätte, wä wä wäre er si si sicher nicht er er erfreut. Im Im Immerhin ge ge gehörst du sei sei seiner Par Par Partei an und so so solltest froh sein, wenn je je jemand sei sei seine Lie Lie Liebe zu ihm auf die die diese Wei Wei Weise zum Aus Aus Ausdruck bringt. Ich mei mei meine es ehr ehr ehrlich, auch wenn du da da das vie vie vielleicht nicht glau glau glaubst."
Bei den letzten Worten grinste Fritz Tegtmeier und blickte Karl Brammer und dann dessen Schwester an. Diese lachte amüsiert auf, während der Bauer verärgert sagte: "Du redest mal wieder einen Unsinn. Mach, dass du an die Arbeit kommst."
"Du hast aber nur eine kläglich schlappe Fahne gegrüßt, Fritz, und keine, die uns stolz voranflattern soll," bemerkte Caroline Neuwinger in einem leicht ironischen Tonfall. "Wenn du nach Grafenhagen kommen und vor jeder Fahne stramm stehen und grüßen würdest wie eben, hättest du heute Abend einen steifen Arm und kaputte Schuhe. Da hängen nämlich an manchen Häusern sogar zwei Fahnen, eine vor dem Erdgeschoss und eine vor der ersten Etage. Einige Straßen gleichen dort einer Fahnenallee."
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