Als Liesel Neuwinger während der Wochenschau einen Blick nach rechts warf, sah sie, dass ihr Bruder mit seiner rechten Hand die linke Hand ihrer Freundin Hilde hielt. Claus hatte den kurzen Blick seiner Schwester nach rechts nicht bemerkt. Auch Hilde Bartels hatte ihn nicht mitbekommen. Liesel schmunzelte und lehnte sich irgendwie glücklich noch tiefer als zuvor in ihren Sitz zurück.
Nach der Wochenschau wurde es wieder für einige Minuten hell im Saal. Dann folgte der Film "Quax, der Bruchpilot", der die Kinobesucher wiederholt zu Lachstürmen hinriss, der aber für alle viel zu schnell zu Ende ging.
Als es wieder hell im Saal wurde, richteten sich erneut viele Blicke auf Claus Neuwinger. Die Gesichter der Menschen im Kino hatten jetzt aber wegen der zahlreichen lustigen Szenen des Films einen entspannten, fröhlichen Ausdruck.
Claus Neuwinger und seine Begleiter warteten stehend, bis fast alle Besucher den Balkon verlassen hatten. Dann gingen auch sie die Treppe hinunter in den Vorraum zum Kinosaal. Hier standen wiederum zahlreiche Menschen vor der Kasse, die Karten für die Abendvorstellung erwerben wollten. Auch jetzt wurde Claus Neuwinger von vielen angeblickt. Er war unter ihnen der einzige in Uniform.
Der Kinobesitzer Steinicke verabschiedete sich von Karl Brammer und seinen Begleitern mit Handschlag. Gegenüber Claus machte er dabei mit breitem Lächeln die Bemerkung, er solle so weitermachen, dann werde aus ihm ein noch berühmterer Jagdflieger. Karl Brammer und die beiden Mädchen hörten das gern, während Claus und sein Vater eher Zurückhaltung empfanden, aber trotzdem mit einem freundlichen Lächeln darauf reagierten. Alle fünf bedankten sich bei Steinicke für den freien Eintritt, verließen sodann den Vorraum zum Kinosaal und gingen in Richtung Marktplatz. Karl Brammer wollte seinen Schwager, Claus und die beiden Mädchen noch bis zum Auto begleiten und anschließend mit seinem Fahrrad nach Hause fahren. Alle stimmten dahin überein, dass sie einen sehr schönen Nachmittag gehabt hatten.
Am Auto angekommen, verabschiedete sich Karl Brammer von seinen Begleitern. Claus und die beiden Mädchen taten das mit erhobenem rechten Arm und mit Heil Hitler und gaben Karl Brammer anschließend die Hand. Franz Neuwinger verabschiedete sich ebenfalls mit Handschlag, aber mit den Worten: "Mach es gut; Karl. Bis demnächst mal wieder."
An seinen Neffen gewandt sagte Karl Brammer noch: "Hole weitere feindliche Flugzeuge vom Himmel, aber pass auf dich auf, Claus. Sei vorsichtig."
Das werde ich," versicherte jener.
Dann stiegen die vier ins Auto, und gleich darauf holperte der Wagen in die Richtung, aus der vor etwa drei Stunden gekommen war. Karl Brammer ahnte nicht, dass er seinen Neffen soeben zum letzten Mal gesehen hatte.
Er holte sein Fahrrad aus der Fahrradwache und fuhr, von dem Erlebten leicht beschwingt, nach Hause. Die kritischen Äußerungen seiner Schwester vom Vorabend über den Führer, über den Krieg und die Partei hatte er verdrängt, ja, fast vergessen. Jedenfalls dachte er in diesen Augenblicken nicht daran.
Zu Hause angekommen, aß er in Gegenwart seiner Frau und seiner Tochter in der Küche einige Butterbrote, die Lina Brammer bereits für ihn zubereitet hatte. Sie selbst, ihre Tochter und ihre Schwiegermutter hatten schon etwa eine Stunde zuvor, als Karl Brammer noch im Kino war, Abendbrot gegessen. Danach hatte sich Sophie Brammer in ihr Zimmer zurückgezogen.
Während Karl Brammer die Butterbrote aß und ein Glas Milch dazu trank, erzählte er seiner Frau und seiner Tochter vom Kinobesuch, von dem, was er erlebt hatte, und besonders auch vom Inhalt des Films. Dabei verging die Zeit ziemlich schnell.
So gegen einundzwanzig Uhr suchte Anna Zurheide ihre Wohnung auf. Ihre Eltern verließen ebenfalls die Küche und begaben sich in ihr Schlafzimmer, wo sie sich entkleideten, ihr langes, weißes Nachthemd anzogen und sich dann ins Bett legten. Jeder hatte sein eigenes Bett. Beide Bettgestelle standen jedoch nebeneinander.
Es dauerte nicht lange, da fragte Karl Brammer seine Frau - wie meistens in solchen Fällen - mit einem leicht bettelnden Unterton: "Darf ich noch ein bisschen zu dir kommen?"
Die Frage war rein rhetorisch , denn ohne eine Antwort abzuwarten, kroch er aus seinem Bett unter das dicke Oberbett seiner Frau und schmiegte sich, auf der rechten Seite liegend, an sie. Lina Brammer legte sich gleich danach auf ihre linke Seite, und beide Eheleute begannen wortlos, sich gegenseitig abzutasten und zu streicheln. Karl Brammer spürte die glatte und straffe Haut seiner Frau, die noch keine Alterserscheinungen aufwies. Auf Grund dieses Vorspiels steigerte sich die sexuelle Erregung beider mehr und mehr. Karl Brammer legte sich schließlich auf seine Frau, und es kam zum Verkehr - seit Tagen mal wieder. Das frühe Aufstehen, die harte Arbeit während des Tages und die Müdigkeit am Abend, aber auch das fortgeschrittene Alter hatten im Laufe der Jahre zur Folge gehabt, dass ein Beischlaf zwischen ihnen seltener stattfand als früher, meistens nur einmal in der Woche, manchmal auch zweimal. Es war in der Vergangenheit allerdings nicht häufig vorgekommen, dass beide etwa zur gleichen Zeit ihren Orgasmus hatten. In der Regel war Karl Brammer zuerst befriedigt. Aber er hatte danach in nahezu allen Fällen mit seinen Händen dafür gesorgt, dass auch seine Frau ihre Befriedigung bekam. So war es auch an diesem Abend.
Die Eheleute hatten seit ihrer Heirat einen völlig unverkrampften und offenen Umgang mit ihren sexuellen Bedürfnissen. Wenn einer von ihnen ein sexuelles Verlangen nach dem anderen hatte, gab er es ihm ohne Hemmungen zu verstehen. Das hatte in der Vergangenheit schon mehrere Male dazu geführt, dass sie, wenn sie auf dem Boden über dem Stall zu tun hatten und allein waren, dort ganz spontan einen Beischlaf miteinander hatten. Beide hatten das nie als anstößig empfunden. Danach hatten sie stets das Gefühl gehabt, dass ihnen die Arbeit an diesem Tage leichter von der Hand ging. Beide empfanden diese sexuelle Offenheit als angenehm und sahen sie mit als Grund dafür an, dass ihre Ehe, von gelegentlichen nebensächlichen Streitigkeiten mal abgesehen, weitgehend harmonisch war.
Allerdings hatte Karl Brammer in früheren Jahren, besonders nach der Geburt ihres zweiten Kindes, den Geschlechtsverkehr unmittelbar vor dem Orgasmus abbrechen müssen, um zu vermeiden, dass seine Frau wieder schwanger wurde. Beide waren sich nämlich einig gewesen, nur zwei Kinder zu haben. Verhütungsmittel gab es im Hause Brammer nicht. Zwar hätte sich Karl Brammer in der Apotheke in Grafenhagen sogenannte Überzieher, die auch als Pariser bezeichnet wurden, besorgen können; aber er hatte sich geniert, bei seinem Parteigenossen Sennemeier, dem Inhaber der einzigen Apotheke in der Stadt, solche zu kaufen. Auch seiner Frau war es peinlich gewesen, dort diese Schutzmittel zu besorgen. Deshalb hatten sie in den vergangenen Jahren ohne Schutzmittel zurecht kommen müssen. Sie hatten das jedoch letztlich nicht als Nachteil empfunden.
Als beide befriedigt und gelöst, aber noch eng umschlungen wieder auf der Seite lagen, vom Beischlaf noch schwer atmend, sagte Karl Brammer: „Mann, oh Mann, hatte ich einen Überdruck, seit Tagen schon. Es wurde mal wieder Zeit mit uns beiden.“
Nach einiger Zeit verließ er das Bett seiner Frau und rollte sich in sein eigenes Bett zurück. Danach machte er noch die Bemerkung, das habe mal wieder Spaß gemacht, während seine Frau lachend meinte, dieses konstenlose Vergnüben hätten sie sich in letzter Zeit viel zu selten gegönnt.
„Du hast Recht,“ stimmt Karl Brammer seiner Frau zu. „Wir gehen zwar auf die Fünzig zu, aber auf diesem Gebiet fühle ich mich noch wie dreißig. Wenn ich abends nur nicht immer so verdammt müde wäre.“
„Gib nicht so an, Karl,“ reagierte seine Frau darauf amüsiert. „Als du dreißig warst, auch noch mit vierzig, bist du trotz der vielen Arbeit fast jeden zweiten Abend zu mir ins Bett gekrochen, selbst in der Nacht noch, wenn du mal spät von einer Versammlung oder von der Jagd nach Hause gekommen bist.“
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