Als er zu Hause ankam, wollte seine Frau gerade ins Bett gehen. Karl Brammer erzählte ihr, während er sich auszog, von dem, was er in Brinke erlebt hatte. Seine Frau stellte dazu viele Fragen, die er geduldig beantwortete. Und so dauerte es fast eine Stunde, bis beide einschliefen. Zuvor hatte Lina Brammer ihren Mann noch darauf hingewiesen, dass sie mit seiner Mutter vereinbart habe, morgen in die Kirche zu gehen. Karl Brammer hatte sich auf Bitten seiner Frau bereit erklärt, mitzukommen.
Am nächsten Morgen standen beide wegen des beabsichtigten Kirchenbesuchs früher auf als sonst. Das Vieh wurde gefüttert, und die Kühe wurden gemolken. Danach wurde zusammen mit der Tochter Anna und Sophie Brammer in der Küche gefrühstückt. Die Eheleute Tegtmeier aßen - wie stets an Sonntagen - in ihrer Wohnküche in der Leibzucht. Während des Frühstücks berichtete Karl Brammer auch seiner Tochter und seiner Mutter von den Gesprächen am Vorabend bei der Familie seiner Schwester.
Nach dem Frühstück zogen die Eheleute Brammer dunkle Kleidung an, die sie in der Regel bei Kirchgängen trugen. Karl Brammer wählte seinen dunkelgrauen Anzug für den Kirchgang aus, an dessen linkem Revers das Parteiabzeichen gesteckt war. Sophie Brammer hatte sich bereits vor dem Frühstück für den Gottesdienstbesuch angezogen. Dann holten die drei ihre Fahrräder aus der kleinen Scheune und radelten zur Kirche.
Es war auch an diesem Tag schönes Wetter. Die Sonne schien, und es war fast windstill.
Karl Brammer war immer wieder erstaunt darüber, dass seine Mutter trotz ihres Alters und ihres offenen linken Beins noch so gut Rad fahren konnte, während ihr das Gehen schwer fiel.
Der Gottesdienst war gut besucht, und Karl Brammer bemühte sich, der Predigt des Pastors Kuhlmann, an dessen Talar das Parteiabzeichen steckte, zu folgen. Aber das gelang ihm nur zeitweise. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu im Grunde unbedeutenden Problemen ab, welche die Bewirtschaftung seines Hofes betrafen, zur Familie seiner Schwester, zu seinem Schwiegersohn in Ostpreußen und zu dem bevorstehenden Kinobesuch am Nachmittag, auf den er sich schon sehr freute. Nur beim Singen mit Orgelbegleitung war er hellwach und beteiligte sich kräftig daran. So war es häufig während der Predigten. Zwischendurch ging ihm immer mal wieder etwas durch den Kopf, was mit dem Gottesdienst nichts zu tun hatte. Dabei hielt Pastor Kuhlmann meistens interessante Predigten mit einer klaren und deutlichen Stimme. Auch dauerten seine Predigten nicht allzu lange, höchstens eine dreiviertel Stunde. Aber so sehr sich Karl Brammer auch bemühte, sich auf die Worte des Pastors zu konzentrieren, gelang ihm das oft nicht. An diesem Sonntagmorgen wurde er erst wieder so richtig aufmerksam, als sein Parteigenosse Kuhlmann am Ende der Predigt von den deutschen Soldaten im Feindesland sprach, dass Gott sie beschützen möge, dass er dem Führer die Weisheit geben möge, die richtigen Entscheidungen zu treffen, und dass er seine schützende Hand über ihn und seine Regierung halten möge. Amen. Dann wurden abschließend noch drei Verse eines Gesangs gesungen.
Danach, und zwar nach dem Segen, verließen die Gottesdienstbesucher die Kirche. Draußen wurden noch kurze Gespräche mit dem einen und anderen Bekannten geführt, bis schließlich die Rückfahrt angetreten wurde. Karl Brammer war froh, dass die Eltern seines Kollegen Heinrich Senne nicht in der Kirche gewesen waren. Jedenfalls hatte er sie nicht gesehen. Und seine Gesprächspartner nach dem Gottesdienst vor dem Kirchengebäude hatten ihn nicht auf Heinrich Senne angesprochen. Auch darüber war er froh. Er hätte nicht gewusst, was er hätte zu dessen Verhaftung sagen sollen, allenfalls, dass es für einen deutschen Mann verboten sei, eine sexuelle Beziehung zu einer polnischen Fremdarbeiterin aufzunehmen. Aber das war allgemein bekannt, und eine solche Erklärung hätte die Fragenden sicher nicht befriedigt.
Zu Hause hatte Anna Zurheide in der Küche bereits den Mittagstisch gedeckt. Es gab Eintopf.
Nach dem Essen war etwa eine Stunde Ruhezeit. Anna und Sophie Brammer verbrachten diese Zeit in ihrem Wohnzimmer, während es sich Karl Brammer auf dem Sofa in der Küche bequem machte und seine Frau sich in voller Kleidung, ohne Schuhe natürlich, im Schlafzimmer auf ihr Bett legte.
Gegen drei Uhr wurde in der Küche Kaffee getrunken, vorbereitet von Anna und hergestellt aus Muckefuck, einem Ersatzkaffee. Dazu gab es Zuckerkuchen, den Sophie Brammer bereits am Vortage gebacken hatte. Während dieser Zeit fragte Karl Brammer seine Frau noch einmal, ob sie mit ins Kino kommen wolle. Aber sie lehnte wie bereits am Abend zuvor ab. Sie meinte, die Männer und die Mädchen sollten unter sich sein. Sie würde nur stören. Im Übrigen komme ihre Schwägerin, also die Schwester ihres Mannes, auch nicht mit. Karl Brammer was das recht.
Bereits gegen vier Uhr holte er sein Fahrrad aus der kleinen Scheune und fuhr in Richtung der etwa zweieinhalb Kilometer entfernten Stadt Grafenhagen, an sich viel zu früh; aber er war gespannt auf das Auftreten seines Neffen in der Öffentlichkeit, und diese Spannung wollte er durch das frühe Abfahren von zu Hause abbauen.
"Fast bist du so aufgeregt wie die beiden Mädchen," dachte er während der Fahrt nach Grafenhagen und musste über sich selbst schmunzeln. Aber es war für ihn schon etwas Besonderes, mit einem erst vor wenigen Tagen mit einem Ritterkreuz ausgezeichneten Oberleutnant der Luftwaffe ins Kino zu gehen. Das wollte er genießen, und darauf wollte er sich innerlich in Ruhe vorbereiten.
In Grafenhagen brachte er sein Fahrrad in einen Schuppen, der hinter einem Haus gleich neben dem Kino als Fahrradwache diente. Hier konnte er sein Rad für einen Groschen abstellen. Viele Kinobesucher, besonders aus dem Umland von Grafenhagen, taten das. Dann suchte er die Lichtburg auf. Seinen Parteigenossen Walter Steinicke, den Kinobesitzer, traf er in einem Vorraum in der Nähe der Kasse. Zu dieser Zeit war die Nachmittagsvorstellung noch im Gange. Und obwohl bis zur nächsten Vorstellung um halb sechs noch etwa eine Stunde Zeit und noch keine Eintrittskarten verkauft wurden, hatten sich bereits zahlreiche Besucher vor der Kasse angestellt, um eine Karte zu erwerben. Steinicke zog gerade einen Strick von einer Säule im Vorraum bis zu einem Laternenpfahl auf dem Fußweg vor dem Kino, um den Besucherstrom vor der Kasse in eine geordnete Bahn zu lenken.
"Einen Moment, Karl, ich bin gleich soweit," rief er Karl Brammer zu, "ich muss nur noch den Strick anknoten."
Als er damit fertig war, drückte er Karl Brammer mit beiden Händen kräftig die rechte Hand und strahlte ihn an: "Gratuliere zum Ritterkreuz deines Neffen. Ich habe es vorgestern im Radio gehört. Tolle Sache, ganz tolle Sache. Da kannst stolz auf ihn sein."
"Du wirst ihn gleich sehen. Er will sich ebenfalls den Film anschauen, zusammen mit seinem Vater, seiner Schwester, deren Freundin und mir," erklärte Karl Brammer. "Ich soll fünf Karten besorgen und Plätze freihalten."
"Wird sofort gemacht," sicherte Steinicke zu. "Gleich nach Ende der Vorstellung reserviere ich für euch die Plätze. Auf dem Balkon natürlich, erste Reihe. Und dann habt ihr selbstverständlich freien Eintritt."
"Aber das braucht doch nicht zu sein, Walter," reagierte Karl Brammer auf die Ankündigung des Kinobetreibers und fügte dann etwas ironisch hinzu: "Denk daran, dass wir fünf Personen sind. Ich möchte nicht, dass du unseretwegen ein armer Mann wirst."
"Rede nicht einen solchen Unsinn, Karl," entgegnete Steinicke grinsend, "das Kinogeschäft läuft gut. Gerade in Kriegszeiten sehnen sich die Leute nach Abwechslung. Und dann "Quax, der Bruchpilot." Dieser Film ist ein Renner. Bisher hatte ich nur ausverkaufte Vorstellungen. Also keine Rede mehr davon. ihr habt freien Eintritt."
Dann fügte er noch hinzu: "Und im Übrigen: Wann habe ich schon mal einen Ritterkreuzträger in meinem Kino."
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