"Na, na, na, nun man langsam," mischte sich Franz Neuwinger schmunzelnd ein, "noch ist es nicht so weit."
Claus stand etwas verlegen und irritiert vor seinem Onkel, der ihn immer noch bewundernd anblickte.
"Du weißt ja gut Bescheid, Onkel Karl," erwiderte er dann lächelnd.
"Das muss ich auch sagen," bemerkte Franz Neuwinger erstaunt, "diese Reihenfolge der Auszeichnungen war mir bisher nicht bekannt."
"Mir ist es völlig unwichtig, welche Orden er erhält; Hauptsache er kommt gesund aus dem Krieg zurück," sagte Caroline Neuwinger mit leiser Stimme, "ich bete darum."
"Das wird er schon," versuchte Karl Brammer seine Schwester zu beruhigen, "der Krieg ist so gut wie zu Ende. Polen und Frankreich sind besiegt, und die Tommys sitzen auf ihrer Insel fest. Die müssen froh sein, wenn wir sie nicht besetzen."
Dann wandte er sich wieder seinem Neffen zu: "Aber nun erzähle mal ein bisschen, Claus. Wie ist das so mit den Abschüssen?"
"Na ja," versuchte jener zu erklären, "ganz einfach und ungefährlich ist das nicht. Wir müssen sehen, dass wir von hinten so an den Gegner herankommen, dass wir zielsicher abdrücken können."
"So schwierig kann das aber doch nicht sein," meinte Karl Brammer etwas verwundert, "ich bin zwar Laie; aber ich habe gelesen, dass die Messerschmitt 109, die Me 109, das schnellste Jagdflugzeug der Welt ist."
"Das stimmt schon," entgegnete Claus und setzte sich wieder aufs Sofa neben seine Mutter, während sein Onkel im zweiten Sessel Platz nahm. "Aber die englische Spitfire ist nicht zu unterschätzen. Dieser Jäger ist der Me 109 in der Schnelligkeit fast ebenbürtig; aber er ist wendiger, und das macht ihn sehr gefährlich. Das englische Jagdflugzeug Hurricane ist unserer Me 109 dagegen unterlegen."
"So, so, das wusste ich nicht," gab Karl Brammer etwas kleinlaut zu verstehen, "aber dann kommt es doch wohl ganz entscheidend auf die fliegerischen Fähigkeiten der Piloten an, und da sind die deutschen doch Spitze - oder?"
"Ja, ja, wir haben viele gute Jagdflieger, das stimmt schon," erwiderte Claus, "aber die Engländer haben auch gute Piloten. Im Übrigen haben wir es nicht nur mit englischen Jägern zu tun. Wir jagen auch englische Bomber und Aufklärer und fliegen für unsere Bomber Geleitschutz. Weißt du, Onkel Karl, die polnischen und französischen Flugzeuge waren für uns keine echten Gegner; aber die Engländer sollten nicht unterschätzt werden."
Claus hatte die letzten Sätze etwas nachdenklich gesprochen.
"Möchtest du auch ein Glas Wein, Karl?" fragte Caroline Neuwinger ihren Bruder.
"Ja, bitte."
Liesel Neuwinger erhob sich unaufgefordert vom Stuhl, brachte ihrem Onkel ein Weinglas und füllte es.
"Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden wir die Tommys besiegt haben," verkündete Karl Brammer überzeugt, "ihr werdet das schon machen."
Claus Neuwinger schwieg dazu, während seine Mutter die Frage stellte: "Was wollen wir denn überhaupt in England? Reichen die bisherigen Siege nicht aus? Unsere Soldaten sind in Polen, Holland, Belgien und Frankreich, sollen sie denn auch noch in England ihr Leben lassen? Mir kommt das alles wie ein Kriegsspiel erwachsener Kinder vor. Und die vielen Toten auf beiden Seiten. Muss das sein? Wozu das alles? Kannst du mir das erklären, Karl?"
Karl Brammer war etwas irritiert über die Äußerungen seiner Schwester. Er wusste, dass sie dem Krieg ablehnend gegenüberstand und dass sie die NSDAP kritisch betrachtete. Mit ihren Fragen und Bemerkungen hatte sie ihn schon öfter in Verlegenheit gebracht. Mehrere Male hatte er sie bereits ermahnt, mit ihren Äußerungen vorsichtiger zu sein, jedenfalls gegenüber Personen außerhalb der Familie.
Claus Neuwinger schwieg zu den Bemerkungen seiner Mutter. Karl Brammer dagegen meinte: "Wir sollten die Kriegseinsätze dem Führer und seinen Generälen überlassen. Ich bin überzeugt davon, dass sie wissen, was zu tun ist, und dass ihre Entscheidungen richtig sind."
Danach schwiegen alle einen Moment, bis Karl Brammer fortfuhr: "Mich würde mal interessieren, Claus, ob du Angst hast beim Fliegen, insbesondere bei den Luftkämpfen."
"Vor den Einsätzen, wenn wir in Alarmbereitschaft sind, und das sind wir fast immer, spüre ich eine Spannung, eine Unruhe in mir. Ich schlafe dann schlecht," versuchte Claus nach einigem Zögern seine Gefühle vor dem Start zu erklären. "Angst ist das nicht, nein, nicht direkt, aber ich denke dann schon an Kameraden, die abgeschossen wurden, und mir ist in diesen Augenblicken bewusst, dass der Tod immer mitfliegt."
Claus hatte die Sätze langsam und nachdenklich gesprochen. Danach schwieg er einen Moment, und sein Onkel war etwas betroffen, als hätte er vorher geglaubt, dass es auf deutscher Seite keine Toten geben würde.
"Ja, Onkel Karl, wir sind nicht nur Helden und Sieger wie es in der Presse, im Rundfunk und in den Wochenschauen oft dargestellt wird. Es gibt auch bei uns Verluste, bei den Jagdfliegern und bei den Bomberpiloten."
"Nur wird darüber nicht berichtet," warf Caroline Neuwinger ein.
"Die Verluste unter unseren Jagdfliegern sind nicht nur auf Abschüsse durch die Flak, die Flugzeugabwehrkanonen, und durch englische Jäger zurückzuführen . Nein, mancher ist abgestürzt und im Ärmelkanal ertrunken oder bei Notlandungen in Frankreich zu Tode gekommen, weil ihm der Treibstoff ausgegangen ist. Wir müssen nämlich sehr aufpassen, rechtzeitig zu unserem Stützpunkt in Frankreich zurückzufliegen. Über England dürfen wir uns maximal zwanzig Minuten aufhalten, sonst wird für den Rückflug das Benzin knapp. Eine sehr kurze Zeit ist das, besonders wenn wir gerade in Luftkämpfe verwickelt sind. Dann achtet mancher nicht auf die bereits verstrichene Zeit."
Nach einem kurzen Schweigen ergänzte Claus: "Um auf deine Frage zurückzukommen, Onkel Karl: Wenn ich in meiner Maschine sitze und den Motor anlasse, ist die innere Unruhe weg. Dann konzentriere ich mich nur noch auf den Start und auf einen bevorstehenden Kampf in der Luft. Das ist dann fast so wie ein spannendes Abenteuer."
"So muss es auch sein," meinte Karl Brammer, "wäre es anders, hättet ihr keine Erfolge."
"Und an manchen Tagen erlebe ich dieses Abenteuer zweimal, manchmal sogar dreimal am Tag," ergänzte Claus. "Das ist ziemlich belastend."
Die Eheleute Neuwinger schwiegen und tranken einen Schluck Wein aus ihrem Glas. Auch Karl Brammer und Claus taten das. Die beiden Mädchen blickten bewundernd auf Claus und beteiligten sich nicht an dem Gespräch der Erwachsenen.
Dann stellte Caroline Neuwinger die Frage: "Wenn du ein feindliches Flugzeug beschießt, denkst du dann auch an die Menschen, die darin sitzen? Vielleicht haben sie eine Familie, Eltern, die sich um sie sorgen, Geschwister. Sie alle wollen doch, dass ihr Ehemann, Vater, ihr Kind und ihr Bruder gesund nach Hause kommt - wie auch ich will, dass du den Krieg heil überlebst."
"Es sind unsere Feinde," warf Karl Brammer ein, "auf Gefühle dürfen unsere Soldaten keine Rücksicht nehmen."
"Unsere Feinde?" argumentierte Caroline Neuwinger etwas erregt. "Wie kann jemand unser Feind sein, den wir gar nicht kennen? Es wird von oben bestimmt, dass sie unsere Feinde sind. Wir selbst dürfen darüber nicht entscheiden. Schlimm ist das. Vielleicht wäre der englische Pilot, der unser Feind sein soll, unser Freund, wenn wir ihn kennen lernten. Du, Karl, kennst keinen einzigen Engländer oder Franzosen, aber du sagst, sie seien unsere Feinde. Wieso sind sie unsere Feinde?"
Karl Brammer fühlte sich erneut in die Enge getrieben. Ihm war unbehaglich bei der Argumentation seiner Schwester.
"Beruhige dich, Mama. Onkel Karl hat Recht. Die Tommys sind nun mal unsere Feinde. Und ich kann beim Luftkampf nicht darüber nachdenken, ob in dem anderen Flugzeug ein Familienvater, ein Sohn oder ein Bruder sitzt," versuchte Claus seiner Mutter zu erklären. "Wenn ich das täte, wäre ich verloren. Ich würde dann unentschlossen sein, dadurch Fehler machen und eine Beute der Gegner werden. Ich muss darauf achten, dass mir kein feindlicher Jäger im Nacken sitzt. Nachdenken darüber, wer in der anderen Maschine sitzt, darf ich nicht."
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