Nach einer Fahrt von etwa zehn Minuten durch den Wald tauchten die ersten roten Backsteinhäuser von Brinke auf, ein Dorf mit etwa fünfundzwanzig Häusern und gut hundert Einwohnern. Die meisten Männer des Dorfes arbeiteten in der Forstwirtschaft, einige in einer Drahtfabrik und in einer Weberei in Grafenhagen sowie in der Landwirtschaft auf einem Gutshof in der Nähe von Grafenhagen und bei Bauern in Wöhren und Mirbke. Einige Männer waren aber auch schon zum Militär eingezogen. Das Dorf war vor etwa hundert Jahren vom seinerzeit regierenden Fürsten für seine Forstarbeiter gegründet worden. Damals gehörte der Wald dem Fürsten, jetzt war er Staatsforst. Das Dorf war im Laufe der Jahre mehr und mehr gewachsen. Es war völlig von Wald umgeben, der sich rundherum in einer Tiefe von mindestens einen Kilometer erstreckte. Es war ein ruhig gelegenes Dorf, das nur über zwei einigermaßen feste Schotterwege Verbindung zu zwei anderen Dörfern und zu Grafenhagen hatte. Der eine Weg, auf dem Karl Brammer gekommen war, führte nach Wöhren und von hier weiter nach Grafenhagen und der andere in das etwa zweieinhalb Kilometer entfernte Dorf Mirbke und dann ebenfalls nach Grafenhagen. Beide Wege waren also im Grunde nur ein Rundweg, der sich in einer weiten S - Kurve durch Brinke zog und von dem, gegenüberliegend, nach rechts und links ein kurzer Stichweg abzweigte, an denen an beiden Seiten Häuser standen. Am Hauptweg waren an beiden Seiten nur jeweils vier Häuser gebaut. Eine Kirche und eine Schule hatte Brinke nicht. Die Bewohner des Dorfes gehörten zum Kirchkreis Wöhren, wo Karl Brammer wohnte, und die Kinder von Brinke mussten die dortige, etwa zwei Kilometer entfernte Volksschule besuchen. Es war für sie ein langer Weg, den sie zu Fuß zurücklegen mussten. Ein Fahrrad besaßen sie nicht. Jedenfalls hatte Karl Brammer bisher kein Kind aus Brinke mit einem Fahrrad nach Wöhren zur Schule fahren sehen.
Aus dem Dorf Brinke hatte nach Karl Brammers Kenntnis bisher nur sein Neffe Claus die Oberschule in Grafenhagen besucht und dort das Abitur gemacht. Seine Nichte Liesel ging dort jetzt noch zur Oberschule. Beide mussten die etwa fünf Kilometer lange Wegstrecke bis Grafenhagen mit dem Fahrrad zurücklegen. Auch die Arbeiter konnten ihre Arbeitsstelle von Brinke aus nur zu Fuß oder mit einem Fahrrad erreichen. Bahn- oder Busverbindungen gab es nach Grafenhagen nicht.
Karl Brammer bog vom Hauptweg nach rechts auf den Stichweg ab, fuhr an einer rechts liegenden kleinen Wiese vorbei und hielt dann vor dem Forsthaus an, in dem seine Schwester mit ihrer Familie wohnte. Nur wenige Meter hinter dem Haus war der dunkle Wald zu erkennen, ebenso am Ende des Stichweges und hinter den links stehenden Häusern.
Vor dem Forsthaus war das zur Försterei gehörende Auto abgestellt. Karl Brammer schloss daraus, dass sein Neffe Claus inzwischen zu Hause eingetroffen war. Das Forsthaus, das voll unterkellert war, hatte einen etwa einen Meter hohen Sandsteinsockel, auf dem Fachwerk errichtet war, dazwischen ausgefüllte mit roten Backsteinen. Es war im Gegensatz zu den übrigen eineinhalb geschossigen Häusern des Dorfes zweigeschossig und wie die anderen Häuser mit einem Satteldach versehen. Links vom Haus, wo sich auch der Haupteingang befand, stand unter einer mächtigen Linde ein großer Holzschuppen, in dem auf der einen Seite Brennholz gelagert war und auf der anderen Seite zur Familie gehörende Fahrräder abgestellt waren. Hinter dem Haus stand ein massiv gebauter Stall, in dem zwei Schweine, mehrere Hühner, Kaninchen und Gartengeräte untergebracht waren. Dahinter erstreckte sich fast bis zum Wald eine Gartenfläche. Stall und Garten konnten vom Haus aus auch durch eine Kellertür an der Rückseite des Hauses erreicht werden.
Seine Schwester arbeitete gern im Garten und hatte Freude an der Versorgung ihrer Tiere. Für Karl Brammer war das nichts Besonderes. Stammte sie doch von einem Bauernhof und hatte sie bis zu ihrer Heirat ihre Eltern bei der Hofarbeit unterstützt.
Karl Brammer schob sein Fahrrad vom Stichweg auf den grob gepflasterten Hof, der sich vom Weg aus am Haupteingang und dem Schuppen vorbei bis zum Stall erstreckte, lehnte es gegen die Hauswand vor dem Eingang und stieg die vier Treppenstufen bis zur Haustür hinauf. Er klingelte kurz, betrat sodann durch die unverschlossene Tür einen kleinen Flur, klopfte zweimal gegen die Korridortür, öffnete sie und betrat die Wohndiele des Hauses, in der seine Schwester, sein Schwager, sein Neffe Claus, seine Nichte Liesel und deren Freundin Hilde Bartels aus Mirbke saßen. Der Jagdhund seines Schwagers, der es sich in der Nähe des Kamins auf einem Teppich bequem gemacht hatte, sprang auf und begrüßte Karl Brammer freudig bellend. Von der Diele aus führte eine breite Treppe in das Obergeschoss des Hauses, wo sich drei Schlafzimmer befanden. Auf der Ebene der Diele waren die Küche, ein Wohnzimmer, ein Abstellraum mit dem Plumsklo und das Arbeitszimmer seines Schwagers eingerichtet. Die Diele selbst, die ihr Tageslicht durch zwei große Fenster nach Norden und Süden erhielt, war wohnlich mit einem runden Tisch, einem Sofa, drei Stühlen und zwei Sesseln ausgestattet. In ihr war es auf Grund des Kaminfeuers angenehm warm.
Karl Brammers Schwester Caroline Neuwinger, eine schlanke, gut aussehende, inzwischen aber leicht ergraute Frau, saß neben ihrem Sohn auf dem Sofa und hielt dessen linke Hand. Sein Schwager Franz Neuwinger, fünfzig Jahre alt, saß in einem Sessel. Die beiden Mädchen saßen auf einem Stuhl am Tisch, auf dem eine Flasche Wein stand. Die Eheleute Neuwinger und ihr Sohn Claus hatten ein gefülltes Glas vor sich auf dem Tisch stehen.
Als Karl Brammer die Wohndiele betrat, erhob sich Claus, hob den rechten Arm zum sogenannten deutschen Gruß und sagte: "Heil Hitler, Onkel Karl."
Dieser erwiderte den Gruß ebenfalls mit: "Heil Hitler."
Er hatte in diesem Moment nur Augen für seinen Neffen, der ihm entgegen kam und ihm die Hand gab.
Caroline Neuwinger begrüßte ihren Bruder mit: "Guten Abend, Karl." Sie hatte zu ihm noch nie Heil Hitler gesagt. Franz Neuwinger empfing seinen Schwager mit den Worten: "Grüß dich, Karl."
Die Eheleute Neuwinger blieben bei der Begrüßung sitzen, während die beiden Mädchen vom Stuhl aufstanden, ihren rechten Arm erhoben und ebenfalls mit Heil Hitler grüßten.
Karl Brammer nahm schon gar nicht mehr richtig wahr, dass seine Schwester in seiner Gegenwart bisher niemand mit Heil Hitler gegrüßt hatte. Er hatte sich inzwischen daran gewöhnt. Sein Schwager hatte es stets vermieden, ihn, wenn sie unter sich waren, mit Heil Hitler zu begrüßen. Nur in Gegenwart anderer grüßte er mit Heil Hitler zurück, wenn er selbst in dieser Weise begrüßt wurde.
"Wir alle sind stolz auf dich, Claus," sagte Karl Brammer freudestrahlend, schüttelte seinem Neffen die Hand, musterte ihn dabei und ergänzte stolz: "Du siehst schneidig aus in deiner Fliegeruniform, und das Ritterkreuz macht sich gut an deinem Hals."
"Findest du?" versuchte Claus bescheiden zu reagieren.
"Nun sei man nicht so zurückhaltend, Junge," erklärte Karl Brammer bewundernd, "du kannst dir schon etwas darauf einbilden: Mit 23 Jahren bereits Oberleutnant der Jagdflieger und dann das Ritterkreuz. Das soll dir erst einmal einer nachmachen."
"Na ja," versuchte Claus auszuweichen, "wenn du meinst."
"Ja, ja, es ist schon so wie ich sagte. Wir alle sind stolz auf dich, und du selbst darfst es ganz besonders sein. Nächsten Freitag wird ein Bericht über dich im „Generalanzeiger“ stehen. Gestern war noch nichts drin."
"Aber im Rundfunk wurde es gestern Abend gemeldet," warf Hilde Bartels ein und strahlte Claus an, "meine Eltern haben es gehört."
"Hole noch viele feindliche Flieger vom Himmel," fuhr Karl Brammer fort, "dann wird es nicht mehr lange dauern, bis du das Ritterkreuz mit Eichenlaub und dann auch noch mit Schwertern und schließlich das Ritterkreuz mit Eichenlaub, Schwertern und Brillanten erhältst. Mach weiter so, mein Junge."
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