1Wir fahren in den Norden mit einem dieser supermodernen Reisecars, die die Türkei zu bieten hat. Eine Stewardess serviert uns heissen Apfeltee und Schokoladebiskuits. Via Iskenderun und Adana sind wir auf dem Weg ins Herz Anatoliens, nach Kappadokien. Eigentlich wollten wir zuerst der Südküste entlang reisen. Weil gerade kein Bus in den Westen fuhr, nehmen wir einen Richtung Istanbul. Die Fahrt bringt uns durch eine wunderbare Bergregion mit bewaldeten Hügeln, schneebedeckten Bergketten und zwei Gipfeln, die sicher über 3000 Meter hoch sind.
Erst kurz vor 21 Uhr kommen wir in Aksaray an und erkundigen uns an der Tankstelle, ob heute noch ein Bus nach Kappadokien fährt. Ein freundlicher Türke, der ein paar Jahre in Deutschland gearbeitet hat, antwortet auf Deutsch, dass der nächste Bus um halb zehn fahre. Wir gehen ins Café und trinken wieder Apfeltee aus den typischen tulpenförmigen kleinen Gläschen. Später stellt sich heraus, dass der Bus doch um 21 Uhr vorbeigefahren ist. Mist!
„Taxi!“ Ich will die Nacht nicht in diesem Ort verbringen. Lieber würde ich nach Göreme anstatt nach Ürgüp fahren, denn in Göreme quartieren sich die jungen Globetrotter ein. Ich suche geradezu Kontakt zu anderen Reisenden - mein Begleiter ist mir zu langweilig. Aber ich lasse mich überreden, nach Ürgüp zu fahren, um Kappadokien zu entdecken. Das Schicksal will es so…
Nach den heutigen ungefähr 620 km läuten wir kurz vor Mitternacht den Besitzer des Born Hotels in Ürgüp aus dem Schlaf. In seinem wunderschönen traditionell eingerichteten 100-jährigen Haus nehmen wir ein Zimmer. Am nächsten Morgen schlendern wir durch das bezaubernde Städtchen mit seinen vielen alten Holzhäusern mit roten Ziegeldächern. Wir sind von felsigen Hügeln umgeben. Ein süsses Plätzchen! Aprikosenbäume blühen und ihre Blüten riechen herrlich. Unser Hotel, jetzt im Sonnenlicht, ist eine Augenweide osmanischer Architektur. Recep und seine Frau, das Besitzerehepaar, sind sehr liebenswürdige Leute. Weil sie kein Frühstück auf der Terrasse vor dem Haus servieren, gehen wir in ein kleines Strassencafé. Das türkische Frühstück besteht aus Weissbrot, Butter, kappadokischem Honig, Fetakäse, Oliven, Tomaten, Gurken, einem Ei und Kaffee. Ich liebe ein reiches, langes Frühstück!
Später spazieren wir durch die malerischen Gassen. Die Leute in den Souvenir- und Teppichläden sind sehr freundlich, nicht aufdringlich und laden uns immer wieder zu Apfeltee ein. Wir setzen uns gerne zu ihnen für einen Schwatz. Es gibt praktisch keine Touristen - im Hochsommer sieht es hier sicher ganz anders aus.
Hinter unserem Hotel gibt es einen Hügel mit unzähligen Höhlen, die zum Teil bewohnt sind. Bauern haben sich in den jahrhundertealten Höhlen häuslich eingerichtet. Wäsche hängt zwischen bizarren Felsformationen an gespannten Leinen. Die Felslandschaft ist spektakulär. Von unserer Anhöhe geniessen wir eine grandiose Aussicht. Die atemberaubenden Tuffsteinformationen sind das Resultat von Eruptionen von drei Vulkanen, dem Erçiyes Dag, Hasan Dag und dem Melendiz Dag, die immer noch aktiv sind. Vor Millionen von Jahren haben sie ganz Kappadokien durch ihre Eruptionen mit Asche, Lava, Staub und Schlamm überzogen, was sich dann wiederum in Tausenden von Jahren mit Erosionen in ebendieses Tuffgestein verwandelt und diese Traumlandschaft geschaffen hat.
Am Abend kommt es dann zur schicksalhaften Begegnung in einer Pizzeria. Wir schreiben den 2. April 1996. Ich spreche den gut aussehenden Mann mit langen Haaren vom anderen Tisch an und frage ihn, ob er zufällig vom Iran gekommen sei. Er heisst Kurt, ist 32 und aus Belgien. Seit fünfeinhalb Monaten ist er mit seinem Freund Alain schon unterwegs. Sie haben ihre Traumreise in Indien begonnen. Beide haben sich ein Motorrad gekauft und ganze drei Monate Indien per Motorrad bereist! Dann hat Kurt seine Rajdoot verkauft und Alain seine Enfield nach Hause verschiffen lassen. Seither reisten sie durch Pakistan und Iran in die Türkei. Ihr sechsmonatiger unbezahlter Urlaub neigt sich dem Ende zu; sie müssen an ihren Arbeitsplatz zurück.
Sie erzählen uns vom hochinteressanten Iran und deren freundlichen Menschen. Der Iran sei unbedingt eine Reise wert, der Grenzübertritt absolut problemlos. Weiter sei es das billigste Reiseland überhaupt. Der einzige Nachteil bestehe lediglich darin, dass sie keine Privatsphäre hatten, weil immer irgendwelche Leute aus Neugier in ihr Hotelzimmer kamen und sich auf ihren Betten niederliessen!
Kurt erzählt mir auch, dass er - eigentlich wie ich - nach Göreme wollte. Weil aber kein Bus mehr dorthin gefahren sei, richteten sie sich halt in Ürgüp ein. Als ich ihn frage, in welches Hotel sie denn abgestiegen seien, antwortet er: «Im Born Hotel!» Wir haben wohl nach Ürgüp kommen und uns hier begegnen müssen...
Nach einem Frühstück auf der Terrasse, das uns Recep auf unseren Wunsch doch noch servierte, verlieren wir uns für einen Tag aus den Augen. Mit Thomas nehme ich einen Bus Richtung Nevsehir. Wir steigen vorher aus und gehen zu Fuss zum Freilichtmuseum vor Göreme. Auch diese historische Stätte ist von der UNESCO auf die Liste der World Heritage Areas gesetzt worden. Es handelt sich um verschiedene Felsenkirchen mit bemalten Fresken aus dem 9. bis 13. Jahrhundert. Die Felsenlandschaft ist traumhaft. Überall sind Höhlen, die nicht nur als Kirchen, sondern auch als Mönchsunterkünfte dienten. Kleine Treppen sind in das Gestein gehauen worden und führen in die Höhlen, die zum Teil mit Torbögen und Säulen verziert sind. Mehr als die Architektur geniesse ich die sagenhafte Landschaft. Es ist Frühling und die Kirschbäume blühen. Es ist wie in einem Märchen!
Dann wandern wir ins Dorf Göreme und nehmen einen Bus nach Pasabagi. Eigentlich nahm der Bus uns mit - wir sahen ihn nämlich nicht kommen. Der Fahrer hielt an, um uns zu fragen, ob er uns mitnehmen könne! Wir wandern weiter und erreichen bald Zelve. Unterwegs kommen wir an weiteren spektakulären Felsformationen vorbei. Die Landschaft ist unbeschreiblich schön. Die Felsen glänzen in allen Farbschattierungen, weiss, gelb, ocker, braun und rot. Manchmal sind Höhlen und Fenster in die Felsen gehauen worden.
Tagsüber ist es heiss, im Gegensatz zu den Nächten. Wir brauchen ein kaltes Getränk und ruhen uns etwas aus, bevor wir hinter Zelve auf den Berg klettern. Die Gegend von Kappadokien befindet sich 1200 Meter über dem Meeresspiegel. Als wir auf das flache Plateau dieses Berges kommen, thront vor uns der schneebedeckte majestätische Erçiyes Dag, 3916 m hoch, der höchste Berg der Türkei westlich des Ararat. Wir klettern über Stock und Stein, auf schlechter Unterlage und Kieswegen nach Kizilçukur, von dort in ein malerisches Tal hinunter, durch Schluchten mit bebauten Feldern und Aprikosenplantagen, Orangen- und Zitronenhainen und kehren durch Traubenfelder zurück nach Göreme. Wir müssen mehrere Male Bauern nach dem richtigen Weg fragen, sonst hätten wir uns in diesem Labyrinth aus verschiedenfarbigen Felsformationen verlaufen!
Nach dem Abendessen treffe ich Kurt und Alain wieder. Wir sitzen mit Recep um den wärmenden Ofen in der Hotelhalle bei Rotwein und Baklava, die in der Türkei noch süsser sind als in Jordanien. Thomas sagt vier Stunden lang kein Wort.
Als ich einmal mit Kurt allein bin, frage ich ihn spontan, ob er nicht Lust hätte, mich nach Zentralasien zu begleiten. Aber er hat kein Geld mehr und muss wieder an seinen Job in Belgien zurück. Kurt ist ein sehr aufgeschlossener und reisegewandter Mann, der sich wie ich sehr für den kulturellen Hintergrund und die Geschichte eines Landes interessiert, in das er reist. Er kann sich sehr gut mit der Bevölkerung verständigen, sucht den Kontakt zu den Einheimischen, wie ich. Er denkt ständig über meine Pläne nach, würde wahnsinnig gerne nach Zentralasien kommen. Weil ich russisch spreche und schon ein paarmal dort gewesen bin, macht es ihn noch mehr an, mich zu begleiten…
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