Das Verlangen nach Schönheit dominierte die Suche der Pythagoreer nach den schönsten Flächen und den schönsten Körpern:
„Der Kreis ist die schönste Fläche – sie ist die einzige Fläche ohne Ecken und Beulen. Die nächstschönsten Flächen sind regelmäßige Vielecke. Die Kugel ist der schönste Körper – sie ist der einzige Körper ohne Ecken, Kanten oder Beulen. Die nächstschönsten Körper sind das Tetraeder, das Hexaeder, das Oktaeder und das Ikosaeder.“
Lassen Sie uns an einer weiteren Unterhaltung der beiden Männer teilhaben. Archytas und Platon sprechen wieder einmal über die Harmonien in der Musik und in der Geometrie. Im Verlauf des Gesprächs kehrt Platon immer wieder auf ein und dieselbe Frage zurück:
„Worin zeigen sich die Harmonien im Kosmos?“
„Wenn du nach dem Schönen im Himmel suchst, musst du mehrere Fragen verfolgen: Welche Gestalt haben die Himmelskörper? Wie viele Himmelskörper gibt es? Wie bewegen sie sich? Welche himmlischen Harmonien erzeugen die Himmelskörper auf ihren Wegen? Wir Pythagoreer sind stolz darauf, die göttliche Harmonie des Kosmos als Ursache für die Gestalt, die Anzahl und die Bewegung der Planeten aufgedeckt zu haben.“
„Und wie denkt ihr euch die Welt als Ganzes?“
„Die Welt denken wir uns bis zur Vollkommenheit geordnet. Sterne und Planeten strahlen als ihr Schmuck. Nach dem Wort ‚Kosmos‘ für Ordnung und Schmuck nannten unsere frühen Mitglieder des Bundes das Weltall selbst ‚Kosmos‘. Sie hatten keine Beweise dafür, dennoch: Die Gestalt der Erde und aller anderen Himmelskörper konnten sie sich nur als äußerst vollkommene, makellose Körper vorstellen – und das waren allein Kugeln.“
Platon war von dieser Idee einer makellosen Kugelgestalt der Erde und aller Himmelskörper begeistert, wie verzaubert. Für kurze Zeit fehlten ihm die Worte. So konnte Archytas frei von Zwischenfragen ausmalen, wie sich die Pythagoreer den Aufbau des Kosmos vorstellten:
Zuerst hätte sich im Kern des Weltganzen das Feuer gebildet, nach seiner Lage nannten sie es Zentralfeuer. Aus der Verehrung der Zahl ZEHN schlussfolgerten sie weiter, dass zehn himmlische Körper das Zentralfeuer umkreisten. Diese waren von außen der Fixsternhimmel, diesem folgten die Planeten Saturn, Jupiter, Mars, Venus und Merkur, weiter innen beendeten Sonne, Mond und Erde den Reigen. Als die Pythagoreer die Anzahl der beobachtbaren Himmelskörper abzählten, waren sie irritiert, geschockt, ja verzweifelt – sie kamen nur bis neun. Aus dem Glauben an die vollkommene Harmonie des Weltgebäudes und aus dem Vertrauen in die Zahl ZEHN als Inbegriff der Harmonie ersannen die frühen Pythagoreer einen zehnten Himmelskörper und nannten diesen „Gegenerde“.
Platon staunte, misstraute diesen Vorstellungen.
„Habe ich richtig gehört: Zentralfeuer? Gegenerde? Da überkommen mich Zweifel! Was versteht ihr denn unter dem Zentralfeuer? Und dann: Wo sollen sich das Zentralfeuer und die Gegenerde befinden? Wir sehen doch im Kosmos weder ein Zentralfeuer noch eine Gegenerde!“
„Nach unseren Vorstellungen“, argumentierte Archytas, „können die Planeten einschließlich der Sonne, aber auch die Fixsterne nicht ewig von selbst leuchten. Sie erhalten ihr Licht vom Zentralfeuer.“
„Wieso sind das Zentralfeuer und die Gegenerde dem menschlichen Antlitz verborgen?“
Auch dafür gebe es eine einleuchtende Antwort:
„Erde und Gegenerde bewegen sich so, dass sich das Zentralfeuer stets zwischen der Erde und der Gegenerde befindet. Zudem bewegt sich die Erde in einer solchen Weise um das Zentralfeuer, dass die Erde der Gegenerde und dem Zentralfeuer immer dieselbe Seite, nämlich ihre unbewohnte Seite zukehrt. Als Folge können die Strahlen des Zentralfeuers die Menschen auf der bewohnten Seite nicht unmittelbar erreichen – erst nach der Reflexion der Strahlen des Zentralfeuers an der Sonne gelangt das Licht zur Erde.“
Ungläubig wiegte Platon sein Haupt hin und her. Ein spöttisches Lächeln umspielte seinen Mund. Archytas erkannte: Es war ihm nicht gelungen, die Zweifel seines Gegenübers zu zerstreuen. Deshalb fügte er hinzu:
„Ich gebe ja zu: Das Ganze ist nicht ohne Tücken. Es gibt auch bei uns einige neuere Astronomen, die meinen, ein Zentralfeuer wäre überflüssig. Sie prüfen noch, ob es möglich wäre, die Erde in die Mitte der Welt zu setzen. Die neueren Ideen für die göttliche Harmonie des Kosmos gehen vor allem auf unseren Astronomen Philolaos von Kroton zurück, der erst vor wenigen Jahren gestorben ist.“
„Der Fixsternhimmel ganz außen“, begann Platon seinen Einwand, „dieser Fixsternhimmel, bildet dieser die Grenze des Kosmos? Und wenn die Fixsterne den Rand des Kosmos bilden: Was befindet sich dahinter?“
Archytas meinte: Da gingen die Standpunkte auseinander.
„Einige behaupten, dahinter sei endlos leerer Raum, andere beteuern, dahinter sei gar nichts, nicht mal ein leerer Raum. Noch andere meinen, dahinter gäbe es noch unzählige Welten, so wie es auch jenseits unserer Stadtmauern andere Städte gebe.“
Da von Platon keine Einwände kamen, setzte Archytas fort:
„Bleibt noch die Frage: Wie bewegen sich die Planeten?“ Die Antwort lautete:
„Für uns Pythagoreer ist es undenkbar, Planeten anzunehmen, die sich frei im Himmel bewegen. Die Planeten und die Fixsterne sind an durchsichtigen Hohlkugeln befestigt, die wir Sphären nennen. Die Sphären drehen sich um ihre Achsen und nehmen die Gestirne mit.“
„Dann müssten sich die Planeten gleichmäßig am Himmel bewegen – das tun sie jedoch nicht, wie alle Astronomen wissen.“
Diesen Einwand hatte Archytas schon erwartet und räumte ein:
„Hierauf wissen wir noch nicht die volle Antwort. Seit langem sind diese Unregelmäßigkeiten im Lauf der Planeten bekannt. Der Lauf einiger Planeten am Himmel gleicht mehr einer Schleifenbahn als einer Kreisbahn. Dies lässt nur eine Deutung zu: Die Planeten müssen zu der einen Zeit schneller laufen, zu einer anderen aber langsamer sein und zu wieder anderen Zeiten sogar rückwärts laufen oder kurzzeitig stillstehen. Warum? Das weiß niemand.“
Einig seien sich alle Pythagoreer jedoch in dem einen:
„Eine solche Unordnung ist unvereinbar mit der göttlichen Ordnung im Kosmos. Die Bewegung der Planeten kann nur eine gleichförmige Bewegung auf einer makellosen Kreisbahn sein.“
Augenblicklich entstand für Platon die Frage:
„Wie lassen sich bei Annahme kreisförmiger und völlig gleichförmiger Bewegungen der Gestirne die beobachtbaren Unregelmäßigkeiten erklären?“
„Lieber Platon, vielleicht gelingt es dir eines Tages, dieses Rätsel zu lösen. Von uns Pythagoreer hat noch keiner die Antwort gefunden.“
„Und wie entstehen beim Rotieren der Planeten die musikalischen Harmonien?“
„So wie ein schnell fliegender Pfeil einen Ton erzeugt, ist dies auch bei der Bewegung der Gestirne. Die Höhe der Töne setzen wir mit der Geschwindigkeit der Gestirne in Beziehung. Insgesamt erzeugt jeder Planet mit seinem Umschwung einen Ton. Alle zusammen ergeben eine Reihe von Tönen, die eine Harmonie bilden. Wir betrachten die sieben Planeten als die goldenen Saiten der himmlischen siebensaitigen Leier.“
„Archytas sag: Warum hören wir diese Harmonien nicht wie bei einer Leier?“
Zögernd, unsicher gab Archytas zu bedenken:
„Ein Grund könnte sein, dass die Menschen diese Musik von Geburt an fortwährend gehört haben und daran gewöhnt sind. Möglicherweise sind die Ohren der Menschen zu eng, um die Sphärenmusik einfangen zu können. Und schließlich sind die Planeten ja sehr weit weg.“
Damit ging ihre Unterhaltung über die Harmonien der Welt zu Ende.
Für Platon schufen die geometrischen Erkenntnisse der Pythagoreer wohl den bedeutendsten Eckpfeiler seines künftigen Denkens: Die Geometrie sei die einzig wahre Quelle des Wissens, ihr käme eine besondere Bedeutung zu.
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