Die Jahre in Tarent (im heutigen Süditalien) hinterließen in Platons Denken die prägendsten Spuren der langjährigen Reise. In dieser pulsierenden Stadt genoss ein Mann das größte Vertrauen der Bevölkerung, sein Name: Archytas. Obwohl die Verfassung die Wiederwahl eines Strategen nicht zuließ, wählten die Bürger sieben Mal hintereinander Archytas zum Feldherrn der Stadt. Die Lebensdaten von Archytas sind extrem unsicher – geboren zwischen 435 und 410 v.Chr. und gestorben zwischen 355 und 350 v.Chr. Zu jener Zeit erhob sich Tarent zur tonangebenden Kraft am Golf von Tarent, ließ Kroton, die ehemals führende Stadt in Unteritalien, weit hinter sich zurück.
Archytas entwickelte Tarent zu einem Hauptsitz der mathematischen Studien jener Zeit. Unter den Zeitgenossen wurde er mit der Lösung eines der drei unlösbaren klassischen Probleme der antiken Mathematik bekannt. Kennen Sie aus dem Mathematikunterricht noch diese Legende?
Eines Tages brach auf der Insel Delos eine Seuche aus, die kein Ende nehmen wollte. Die Menschen schickten Boten nach Delphi, um das Orakel zu befragen. Als die Ausgesandten zurückkehrten, überbrachten sie die Antwort der Pythia: Die Seuche höre auf, wenn die Bewohner von Delos den Altar verdoppelten, den sie Apollon geweiht hatten. Der Altar besaß die Gestalt eines Würfels. Hinter dem Orakel verbarg sich damit ein mathematisches Problem: Ein Würfel soll allein mit Zirkel und Lineal – ohne Maßstab – in einer endlichen Anzahl von Schritten verdoppelt werden. Die Lösung von Archytas entsprach dieser Forderung nicht ganz, denn er musste seine Konstruktionen auf zwei senkrecht zueinanderstehenden Ebenen ausführen.
Archytas war nicht nur Mathematiker, er war vor allem der letzte führende Kopf der Pythagoreer. Sie kennen noch den Satz des Pythagoras? Dieser gehört nicht zu dem, was für Platon an Pythagoras interessant war – es ist auch ziemlich sicher, dass Pythagoras diesen Lehrsatz in Ägypten kennengelernt und nicht selbst entdeckt hat. Womit beeindruckte dann Archytas den Weltenbummler Platon?
Im ausgehenden 6. Jahrhundert v.Chr. hatte Pythagoras in der wegen seines wohltuenden Klimas noch heute viel gerühmten Stadt Kroton eine Gemeinschaft Gleichgesinnter gegründet. Welche Motive Pythagoras zum Verlassen seiner Heimatinsel Samos bewogen hatten? Das ist nicht ganz klar. War es allein seine Ablehnung der Herrschaft des Tyrannen Polykrates? Kam möglicherweise die Furcht vor einer persischen Eroberung seiner Heimat hinzu? Oder war Pythagoras vielleicht doch vor allem von seinen Landsleuten enttäuscht, weil bei diesen seine Ideen keinen Anklang fanden? Sicher spielte vieles zusammen.
Nach ihrem Gründer benannten die Süditaliener die Mitglieder der von Pythagoras gegründeten Gemeinschaft als Pythagoreer. Ihr Bund bestimmte in den nächsten eineinhalb Jahrhunderten maßgeblich das wissenschaftliche, religiöse und politische Leben der meisten Städte in Unteritalien. Sicher hörte Platon viele Legenden über Pythagoras. Allein verbürgte historische Zeugnisse fehlten schon damals, denn Pythagoras hat nichts Schriftliches hinterlassen.
Die Mitglieder des Bundes waren in zahlreichen öffentlichen Ämtern tätig. Auf diese Weise gewannen die Pythagoreer einen immer größeren politischen Einfluss auf die Gesetzgebung und die Verwaltung vieler süditalienischer Städte. Sie gestalteten das Leben im Sinne einer streng aristokratischen Ordnung. Die Sittenlehre der Pythagoreer kannte nichts Höheres als die Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze. Ohne Obrigkeit – so glaubten sie – könnte das Menschengeschlecht nicht bestehen. Die wissenschaftlichen Forschungen der Pythagoreer rankten sich um Fragen nach der Ordnung und dem Aufbau der Welt.
Um 490 v.Chr. entstand in Kroton erstmals eine stärkere Bewegung gegen den Einfluss der Pythagoreer. Weitere Aufstände folgten, einige mündeten in grausame Verfolgungen der Pythagoreer. In Syrakus prüfte Dionysios I., wie weit es her sei mit der gerühmten Verbundenheit der Pythagoreer im Angesicht des Todes. Erinnern Sie sich noch an Ihre Schulzeit? Diese Prüfung gab den Hintergrund für Schillers Ballade „Die Bürgschaft“:
„Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Möros, den Dolch im Gewande;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!“
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
„Die Stadt vom Tyrannen befreien!“
„Das sollst du am Kreuze bereuen.“
...
Nur in Tarent gelangten die Pythagoreer mit Archytas ein letztes Mal zu großer Blüte. Dem inzwischen schon fast 40-jährigen Platon widerfuhr der Glücksfall, die Gastfreundschaft dieses bedeutenden Mannes zu gewinnen, ohne dass es zu einer echten Freundschaft gekommen wäre. Archytas war es, der Platon in das Leben und in die Lehren der Pythagoreer einführte.
Schmuggeln wir uns als stumme Zuhörer in eines ihrer Gespräche über die Lehren der Pythagoreer ein.
Der Geheimschlüssel der Harmonien
„Lieber Platon, in den letzten Wochen kreisten unsere Gespräche immer wieder um die unsterbliche Seele. Ich sprach davon, wie die Seele aus einer Art Lebewesen in eine andere Art übergeht, weshalb wir Pythagoreer keine Tiere töten und deren Fleisch nicht essen. Lange verweilten wir bei der Frage: Wie kann die Seele innerhalb dieser Seelenwanderung gereinigt werden? Einig waren wir uns, dass die Seele aus drei Teilen besteht. Diese haben ihren Sitz in verschiedenen Regionen des Körpers: die Vernunft im Kopf, der Mut in der Brust und das Begehren im Bauch.“
Platon nickte zustimmend.
„Heute möchte ich dich zu einem neuen Thema führen: Wie kann die Seele zu Gott finden?“
Archytas begann – wie konnte es anders sein – bei Pythagoras. Der geradeste Weg zur Gottheit sei die intellektuelle Tätigkeit, weshalb Pythagoras allen Schülern das Studium der Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik auferlegte.
„Das ist es wohl, lieber Archytas, was ich schon hörte: Für euch Pythagoreer steht die Beschäftigung mit der Mathematik im Range einer religiösen Handlung.“
Archytas erinnerte an die geflügelten Worte „des Meisters“, wie sie „ihren“ Pythagoras nannten:
„Der Geist sollte und könnte sich läutern durch die Orgien der Mathematik. Das bedeutet: Die Mathematik kann die Seele heilen. Im Mittelpunkt unserer mathematischen Studien stand daher immer die Suche nach der schönen, harmonischen Ordnung der Welt.“
Den Mitgliedern des Bundes war es streng verboten, Fremden ihre bedeutendsten Erkenntnisse zu verraten. Im Verlauf der vielen Jahre ihres Zusammenseins erlag Archytas dennoch der Versuchung, seinen Gast in die innersten Geheimnisse ihres Bundes einzuweihen. So erfuhr Platon den Geheimschlüssel der musikalischen Harmonien:
„Die Töne einer Leier erklingen in einer Harmonie, wenn sich die Saitenlängen wie kleine ganze Zahlen zueinander verhalten. Befinden sich die Saitenlängen im Verhältnis 1:2 jubilieren sie in einer Oktave. Schwingen die Saiten im Verhältnis 2:3 – lassen sie eine Quinte erklingen. Eine Quarte ertönt bei einem Verhältnis von 3:4.“
Aus diesen musikalischen Harmonien erschlossen die Pythagoreer ein weiteres Mysterium:
„Die Harmonien der Musik stehen mit den ersten vier kleinen ganzen Zahlen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Deshalb begannen die Pythagoreer die Zahl ZEHN zu verehren. Die ZEHN ist die Summe der ersten vier Zahlen, in deren Verhältnissen die himmlischen Harmonien verborgen sind.“
Auch in der Geometrie suchten die Pythagoreer nunmehr nach Harmonien und nach der Gestalt des Schönen. Harmonien fanden sie in der harmonischen Teilung einer Strecke:
„Die harmonische Teilung einer Strecke erreichten wir Pythagoreer auf zweierlei Weise: in Gestalt der vollkommenen Proportion“ – diese Proportion haben Sie, liebe Leser, in der Schule als „Goldenen Schnitt“ kennengelernt – „sowie in Gestalt musikalischer Proportionen wie 1:2 oder 2:3 oder 3:4.“
Читать дальше