»Ah, endlich!« keuchte Emma, die vom Laufen ganz außer Atem war. »Da vorn, da! Da ist sie!« Sie blieb stehen und rief noch einmal laut Pepperonis Namen. Endlich wandte die Katze, deren schwarzes Fell vor Kälte einen Blaustich bekommen hatte, den beiden ihr Gesicht zu. Sie miaute einmal kurz und fing an, sich zu putzen.
»Na, die-hi hat ja Nerven!« hickste Paddy, der vom Durchgeschütteltwerden einen heftigen Schluckauf bekommen hatte. »Mir ist jedenfalls ganz schwi-hi-ndelig!«
Mittlerweile brach der Tag an, und die Schneelandschaft erstrahlte bald im aufgehenden Sonnenlicht. Von Ferne hörten Emma und Paddy Pepperoni ungehalten schimpfen:
»Nein, es war keine gute Idee, so früh am Morgen lustwandeln zu gehen! Keine gute Idee, nein! Die eiskalte Luft schadet meinem Teint!«
»Ich glaube eher, das vi-hi-le Parfum scha-ha-det deinem Hi-hi-rn!« sagte der hicksende Paddy vergnügt, während er in das goldgelbe Licht der aufgehenden Sonne blinzelte.
»Sollte ich ein Sonnenbad nehmen?« Pepperoni war auf eine erhöht gelegene Steinplattform geklettert. »Oh ja, das werde ich tun!« fügte sie hinzu und räkelte sich genüßlich, bevor sie eine sorgsam ausgesuchte Stelle der Plattform mit ihren fächerartigen Schwanzbewegungen vom frischen Schnee befreite. Nur noch ein letztes, schwungvolles Wedeln mit dem Katzenschwanz, dann, endlich, ließ sie sich nieder. Emma lächelte amüsiert. Plötzlich ertönte ein knarrendes Geräusch über ihren Köpfen. Emma trat einen Schritt zurück und sah sich um. Hoch oben in den Baumwipfeln bewegte sich etwas.
»Vielleicht ein Vogel, der hier überwintert«, dachte Emma. Sie hielt eine Hand schützend vor die Augen, weil das grelle Sonnenlicht sie blendete. Pepperoni saß noch immer schmollend auf der freigeschaufelten Stelle unmittelbar unter einer mächtigen Blautanne, die bis in den Himmel zu ragen schien. Die Tanne ächzte und knarrte unter der Last des frischen Schnees.
»Oh, nein!« rief Emma sorgenvoll aus, als sie das Unheil kommen sah. »Komm da weg, Peppi! Schnell!«
Doch es war zu spät! Mit einem ohrenbetäubenden Krächzen, Knacken und Knarren der sich unter der weißen Last biegenden Äste und Zweige löste sich eine gewaltige Schneemasse aus dem Wipfel des Baumes und sauste wie eine Blitzlawine zur Erde hinab und landete genau auf der Stelle, die Pepperoni mit ihrer Schwanzspitze soeben sorgsam freigewedelt hatte.
»Hi-hihi-hoppla-ha!« Paddy hielt sich vor Schadenfreude den Bauch und hickste gleich mehrmals hintereinander, als er sah, daß Pepperoni ihren Kopf aus dem weißen Haufen, der sie unter sich begraben hatte, hervorstreckte und ihn heftig schüttelte. Bei diesem Anblick konnte auch Emma das Lachen nicht mehr unterdrücken. Während Emma und Paddy sich nun also vor Lachen bogen, schimpfte und fluchte Pepperoni lauthals vor sich hin:
»So eine blöde Idee! Ich hätte unbesorgt weiterträumen können, aber ihr mußtet ja unbedingt mitten in der Nacht einen Spaziergang machen. Nun schaut mich an! Mein Fell! Es ist ruiiiiniert!« jammerte die durchnäßte Katze, die sich mühevoll aus der pappigen Schneemasse zu befreien versuchte.
»Hihi-hi-hihihi! In dei-hei-nem früheren Le-he-ben warst du bestimmt ein bego-ho-ssener Pu-hu-del!«
Paddy war außer sich vor Vergnügen. Es war ein Tagesauftakt nach seinem Geschmack!
Nach Pepperonis kleinem Unfall machten sich die drei Frühaufsteher auf den Weg nach Hause. Dort angekommen, öffnete Emma so leise wie möglich die Haustür, denn sie nahm an, daß ihre Eltern noch schliefen. Sofort schlüpfte Pepperoni durch den Türspalt ins Haus hinein, wo sie schnurstracks unter die Kellertreppe in ihr kuscheliges Bett verschwand.
Bevor Emma eintrat, lauschte sie für einen Moment ins Haus hinein. Sie hörte die Stimmen ihrer Eltern, die sich im Wohnzimmer unterhielten. Wahrscheinlich hatten sie gleich nach dem Aufstehen begonnen, miteinander zu streiten. Emma schloß die Haustür ebenso leise, wie sie sie geöffnet hatte. Dann zog sie ihren Mantel aus und horchte. Leise und vorsichtig öffnete sie die Zwischentür und spähte ins Haus. Die Eltern waren offenbar vollauf mit ihrem Streit beschäftigt. So vertieft in ihr Wortgefecht bemerkten sie nicht, daß ihre Tochter an ihnen vorbei die Treppe hinaufschlich. Oben angelangt, setzte sich Emma auf den Treppenabsatz und ließ ihren Tränen freien Lauf. Paddy war untröstlich über den Kummer seiner Freundin. Emma schluchzte leise, als sie ihre Mutter plötzlich sagen hörte:
»Es war ein Fehler, sage ich dir! Wir hätten den Jungen behalten sollen! Es war eine falsche Entscheidung, die wir übereilt getroffen haben. Es war ein bitterer Fehler!«
»Red keinen Unsinn!« schrie Emmas Vater zornig zurück. »Das hätte auch nichts geändert! Mir reicht’s! Hätte ich doch meine Heimat nie verlassen!«
Elizabeth Clock brach in Tränen aus. Mit dünner Stimme erwiderte sie:
»Und was geschieht nun? Was sollen wir jetzt tun? Wirst du es Emma sagen? Sie wird wissen wollen, wieso ...«
»So geht es nicht weiter! Wir müssen ihr die Wahrheit sagen!« unterbrach Titus Clock seine Frau.
»Also, gut. Ich werde sie aufwecken. Früher oder später mußte es ja so kommen«, erwiderte Emmas Mutter niedergeschlagen. Nach diesen Worten öffnete sie die Wohnzimmertür. Auf der Suche nach einem Taschentuch lief Elizabeth Clock schluchzend in die Küche. Unterdessen kauerte ihre Tochter mit dem schweigsam gewordenen Paddy auf ihrer Schulter noch immer auf dem Treppenabsatz.
»Siehst du, Paddy«, sagte sie traurig, »Träume werden wahr!«
Dann stand sie auf und ging zurück auf ihr Zimmer. Sie nahm ihren kleinen, stachelingen Freund vorsichtig von ihrer Schulter und setzte ihn zurück in sein Sandtöpfchen. Anschließend warf sie sich aufs Bett und begann zu grübeln. Kaum eine halbe Stunde war vergangen, da hörte Emma ihre Mutter rufen. Sofort sprang sie auf und lief die Treppe hinab. Die Eltern warteten im Wohnzimmer. Mit den allerschlimmsten Befürchtungen betrat das Mädchen den vom winterlichen Sonnenschein hell erleuchteten Raum. Titus Clock deutete auf einen Stuhl und gebot seiner Tochter, sich zu setzen. Kaum hatte Emma Platz genommen hatte, begann er ohne Umschweife zu sprechen:
»Mein Kind, wir müssen dir etwas mitteilen, das auch dich betrifft. Die Entscheidung ist uns sehr schwergefallen. Aber die Angelegenheit duldet keinen weiteren Aufschub, und daher ist es an der Zeit, dir die Wahrheit zu sagen. Deine Mutter und ich haben einvernehmlich beschlossen, uns für eine Weile zu trennen.«
Emma sah erst ihren Vater, dann ihre Mutter entgeistert an. Elizabeth Clock blickte zu Boden. Schließlich sagte sie mit einem tiefen Seufzer:
»Emma, du mußt wissen, daß wir uns schon seit längerem nicht mehr verstehen. Wir haben diese undankbare Entscheidung immer und immer wieder vor uns hergeschoben, aber glaube mir, meine Kleine, es ist sicher das Beste für uns alle, wenn dein Vater und ich von nun an getrennter Wege gehen. Und für dich, mein Schatz, wird sich diese Lösung auch ganz bestimmt als gut erweisen, davon sind wir überzeugt.«
Emma saß wie erstarrt auf ihrem Stuhl. Nun ergriff ihr Vater das Wort:
»Deine Mutter wird im Frühjahr zu einem Kongreß in die Vereinigten Staaten reisen. Ich werde sie begleiten. Vielleicht ergibt sich währenddessen die Gelegenheit zu einem Neuanfang für uns beide. Sollte allerdings auch dieser letzte Versuch ebenfalls scheitern, so werde ich von Chicago aus direkt nach Schottland fliegen. Ich werde also möglicherweise nicht mehr nach Deutschland zurückkehren.«
»Aber du kannst deinen Vater selbstverständlich jederzeit in Schottland besuchen«, ergänzte Emmas Mutter hastig.
»Habe ich etwas falsch gemacht?« fragte das Mädchen zaghaft.
»Aber nein, mein Liebling! Dein Vater und ich haben, jeder für sich, einige Fehler begangen, die mit der Zeit dazu führten, daß wir uns auseinandergelebt haben. Niemand außer uns beiden trägt dafür eine Schuld«, sagte Emmas Mutter sanft. »Es ist nun einmal geschehen. Damit du aber unsere ewigen Zankereien nicht länger ertragen mußt, haben wir uns überlegt, daß dir ein Ortswechsel sicher gut täte. Also darfst du deine Großmutter in Rumänien besuchen. Ist das nicht aufregend?! Dort, in Transsylvanien, wirst du zunächst für ein paar Monate, vielleicht sogar ein ganzes Jahr lang, die Schule besuchen. Das wird sicher wunderbar: ein neues Land, andere Menschen – und Grandma Tallulah freut sich sehr auf deinen Besuch!«
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