Die Silhouette einer prachtvollen Insel, umgeben von purpurrotem Wasser, erschien am Horizont. Vom Himmel fiel das bizarre Licht einer blaßgrünen Sonne hinab auf einen tiefblauen Sandstrand. Das fremde Eiland war zum Greifen nah, schon glaubten sich die Männer am Ziel ihrer Reise. Da gewahrten sie plötzlich einen wundervollen Gesang. Selbst der Gott des Himmels schien den Atem anzuhalten, so herrlich war die Melodie, die sanft über den Ozean hinschwebte.
Nicht lange, da erblickten die Seefahrer die Verursacherin der engelgleichen Klänge: Auf einem Felsvorsprung hoch über dem Wasserspiegel saß die wunderbare Sängerin und entbot den Abenteurern einen wahrhaft bezaubernden Anblick. Nahe einer weißen Palme thronte die schönste Tochter des Pallas, die Weltengöttin Astrahar. Die Göttin der Liebe badete ihre milchweiße Haut im Sonnenlicht. Zu ihren Füßen kniete der Jüngling Orionos, auf seinem Schoß eine silberne Harfe, der er mit zarter Hand eine vollkommene Melodie entlockte. Orionos, dessen jungendliche Schönheit über alle Sphären hinweg gerühmt wurde, weilte zu Füßen seiner Göttin und lauschte ihrem Gesang.
Astrahar hatte unlängst den Götterberg Pallas verlassen, nachdem sie ihren Gemahl, den Kriegsgott Wodanorr, beim Liebesspiel mit der Blutnymphe Ninivéh überrascht hatte. Aus Rache begab sich die Göttin hinab auf die Insel Heliós, der Heimat des Orionos, um die Schönheit des Jünglings zu bewundern. Wie zu erwarten, vermochte Orionos dem unvergleichlichen Charme der Astrahar nicht lange zu widerstehen. Er verliebte sich in die Schöne und schwor ihr ewigwährende Treue. Das Paar begab sich zu einer kleinen, felsumrandeten Bucht. Astrahar lockte den unschuldigen Knaben hinauf zur höchsten Stelle des Felsenparadieses, um ihn unter freiem Himmel zu verführen.
Nachdem der schönste Liebeseifer abgeklungen war, zückte der Knabe seine Harfe, um seine Angebetete mit seinem Spiel zu erfreuen. Von der Küste der Insel Heliós sandten die Liebenden ihre bezaubernde Melodie hinaus auf den Ozean.
Astrahar ahnte nicht, daß ihr Gemahl in Eifersucht entbrennen und ihr bald nacheilen werde. Tatsächlich ließ der Betrogene, angelockt von den untrüglichen Klängen der Liebe, nicht lange auf sich warten. Nun war Wodanorr nicht allein der Gott des Krieges, er war auch der Beherrscher der Winde. Ihn zu erzürnen, bedeutete: Sturm zu säen. Als nun der zornige Wodanorr seine Gemahlin in zärtlicher Umarmung mit dem schönen Orionos sah, rief er seinen Bruder Nessodon, den Erdenerschütterer und Gebieter über alle Weltmeere, um Hilfe an. Wodanorr entfachte die Winde. Er beschwor einen heftigen Sturm, der bald zu einem Orkan anschwoll und Mordogars Schiffe zurück ins offene Meer trieb. Sein göttlicher Bruder Nessodon ließ zur selben Zeit die Erde erbeben und eine gewaltige Flut aufkommen. Die Schiffe der königlichen Flotte waren dem Wüten der Elemente hilflos ausgesetzt. Meterhohe Wellen bäumten sich vor ihnen auf, bis sie schließlich zerschellten.
Des Tyrannen stolze Armada war zerschlagen. Lediglich fünf Schiffe überdauerten den Sturm. Mordogar selbst wurde ins Meer geschleudert und von den Fangarmen eines schrecklichen Seeungeheuers erfaßt. Sein sterblicher Leib wurde mit dem Gift des Scheusals infiziert, in fünf Teile gerissen und mit der nächsten Flut an Land geworfen.
Den Jüngling Orionos ereilte ein nicht weniger grausames Schicksal. Er wurde von den erzürnten Winden des Wodanorr erfaßt, hoch in die Lüfte gewirbelt und bis auf das nahe Festland getragen. Wodanorr schleuderte seinen Rivalen in den Krater des Vulkans Shogu Albagran, in dessen Glut er unter unermeßlichen Qualen verbrannte. Die schöne Astrahar aber ließ sich von den aufgebrachten Wellen davonspülen und bis an die Küste Arrhaviens tragen. Dort ging sie an Land, und sann auf Rache.
Indes waren die sterblichen Überreste des Imperators an den Strand von Heliós gespült und von zwei tentoridischen Pilgern aufgefunden worden. Nachdem die Zauberkundigen den entstellten Leichnam eingehend untersucht hatten, kamen sie zu dem Schluß, daß die Fangarme eines Riesenkalmars ein lähmendes Gift in die Blutbahn des Königs gebracht haben mußten. Die Weisen nahmen eine Probe von der Haut des Unglücklichen, um den Giftstoff einer weiteren Prüfung zu unterziehen. Einer der Zauberer marschierte zum Inneren der Insel, um Kräuter und Wurzelwerk zu beschaffen, während der andere ein Feuer entzündete und das geheime Ritual vorbereitete. Als sich die Abendsonne gen Horizont neigte, trockneten die Tentoriden die Hautprobe des Verunglückten, bestrichen sie mit einem Kräutersud und warfen sie dann ins Feuer. Die Flamme loderte hoch auf und färbte sich für den Bruchteil einer Sekunde pechschwarz. Die Zauberer blickten einander entsetzt an.
»A kata luton!« rief der Jüngere der beiden Männer voller Schrecken aus. Der Ältere starrte entgeistert in die Flamme. Nach einer kleinen Weile hatte er sich wieder gefaßt und sagte:
»Es ist Haoma, das schwarze Gift!«
»Das Elixier der Unauflöslichkeit!« entfuhr es dem anderen. »Was sollen wir tun?«
»Gar nichts können wir tun«, sagte der Ältere und schüttelte resignierend das Haupt. »Nach sieben Mondwechseln werden seine Körperteile sich vereinigen, und er wird auferstehen als ein Leib.«
»Das Gift macht ihn zur Verkörperung der dunklen Kräfte! Wir müssen seine Auferstehung verhindern!« ereiferte sich der Jüngere.
»Das, mein Freund, liegt nicht in unserer Macht«, antwortete der Alte. Er rieb sich sorgenvoll den Bart. Nach kurzem Nachsinnen schien ihm ein Einfall gekommen zu sein: »Vielleicht gibt es eine einzige Möglichkeit, die Katastrophe abzuwenden. Wir wickeln seine Überreste in Leinen, tränken es mit dem Nektar der Todesliane und geben eine Prise Stramonium hinzu. Ja, so könnte es funktionieren! Die fünf Körperteile des Untoten lassen wir in fünf verschiedene Kontinente bringen und in geheiligter Erde vergraben. Es ist ein Experiment, doch wir sollten es wagen!«
»Einverstanden«, nickte der Jüngere, »dann ans Werk!«
Im fernen Arrhavien hatte die erzürnte Göttin Astrahar ihren Racheplan geschmiedet. Sie näherte sie sich der verhaßten Nebenbuhlerin in der Gestalt einer prächtigen Stute. Das Pferd war so anmutig, daß die Nymphe der Verlockung nicht widerstehen konnte: Sie schwang sich auf seinen Rücken, doch kaum war sie aufgesessen, ging das Tier mit ihr durch. Astrahar trug die schöne Nymphe an den Rand einer Schlangengrube und stieß sie hinein. Ninivéh wurde von tausend Natternbissen getötet.
Als nun Wodanorr vom Schicksal seiner Geliebten erfuhr, brachte er die Winde gegen seine göttliche Gemahlin auf. In ihrer Not rief Astrahar ihren Vater Tarranorr um Beistand an. Der Göttervater sandte sogleich einen Blitz aus, der das streitende Paar trennte. Hernach stieg er höchstpersönlich zur Erde hinab, um den Streit zu schlichten. Der Göttervater hörte sich bedächtig an, was geschehen war. Nachdem Astrahar und Wodanorr ihren Bericht beendet hatten, fällte er ein Urteil, das beiden gerecht wurde: Zu Ehren der schönen Ninivéh sollte eine Stadt im Zweistromland fortan ihren Namen tragen. Die arme Seele des Orionos aber sollte aus dem Höllenfeuer gerettet und als Sternbild an den Himmel entsandt werden. Und so geschah es.
IV. Die gefallene Göttin
Jahrhundert um Jahrhundert ging ins Land, und noch immer gab es keinen Frieden unter den Erdbewohnern. Es war, als trachteten die Geschöpfe der Zeit nach nichts als ihrer eigenen Zerstörung.
Im 19. Jahrtausend sollte die Welt das bislang schrecklichste Gefecht aller Zeitalter erleben: Es war der letzte und entscheidende der sieben Necromannischen Kriege. Die blutrünstigen Schwarzzellvamypre hatten sich mit den furchterregenden Lästrygonen verbündet. Gemeinsam mit den Eryvah, ihren nächsten Verwandten unter den Vampyrvölkern, begehrten sie die Macht über alle Erdenwesen, die in diesen Zeiten die Hemisphären bewohnten.
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