1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 Zehn Minuten später hatte Lein seine Unterkleidung in Ordnung gebracht. Sein Zeitplan war damit zwar endgültig durcheinander gekommen, aber an einem Tag ohne fixe Termine war das zu verschmerzen. Ohne Hektik kleidete er sich fertig an und ging in den Flur zum Schuhregal. Niemand, der ihm auf der Straße in seiner lässig wirkenden Kleidung begegnete, würde annehmen, dass er geraume Zeit vor dem Spiegel zugebracht hatte. Leins Vorstellung von Ästhetik bezog sich nicht vorrangig auf äußerliche, für andere sichtbare Details; ihm ging vor allem es um die Perfektion im Hintergrund. Einzige Ausnahme waren die Schuhe, nur sie durften sein inneres Streben nach Perfektion nach außen hin repräsentieren. An diesem Tag entschied er sich für hellbraune Schnürschuhe, die er am Abend zuvor noch geputzt hatte. Nachdem auch der letzte Rest Staub abgewischt war, wollte er alles nochmals im Spiegel kontrollieren, aber im Flur war keiner vorhanden. Lein griff nach seiner Geldbörse, zog einen der vielen Notizzettel heraus und fügte das Wort SPIEGEL hinzu. Dann verließ er die Wohnung.
Sein erster Weg führte ihn ins Büro der Stadtverwaltung, er wollte so rasch wie möglich seine Fingerabdrücke in Deutschland registrieren lassen. Lein war an die damit verbundenen Vorzüge längst so gewohnt, dass er keinesfalls darauf verzichten wollte.
Die Prozedur ging erstaunlich unbürokratisch vor sich. Wie in England auch konnte Lein selbst entscheiden, welchen Finger er für die Identifizierung verwenden wollte, also blieb er seiner Gewohnheit treu und nahm den linken Mittelfinger. Er legte die Fingerkuppe auf den Scanner und wartete auf die Bestätigung des Beamten. Erst als der sagte »danke, ist okay, Sie sind fertig«, bemerkte Lein, dass er seinen Finger ein wenig nach rechts gedreht aufgelegt hatte, sodass höchstens zwei Drittel seines Abdruckes fotografiert werden konnten. Erstaunlicherweise hatte der Apparat das akzeptiert, und Lein dachte nicht, dass daraus Probleme entstehen könnten.
Zufrieden verließ er das Gebäude und setzte sich ins nächstgelegene Kaffeehaus. Da in der Vitrine nichts zu entdecken war, was einem Croissant auch nur im Entferntesten ähnelte, bestellte Lein einen Schinken-Käse-Toast zu seinem Kaffee, immerhin war es fast Mittag geworden. Er holte sein Y-Com heraus, denn mit Hilfe seines nunmehr gültigen Fingerabdrucks konnte er weitere Erledigungen online vornehmen. Die Website für die Ummeldung der SIM-Card war schnell gefunden, aber Lein erhielt laufend Fehlermeldungen. Er wollte schon aufgeben und nochmals die Stadtverwaltung aufsuchen, entschloss sich aber zu einem letzten Versuch, bei welchem er seinen Finger genauso verdreht auflegte wie er es dort gemacht hatte – und es funktionierte. Er war verwundert über die Software, die unvollständige Fingerabdrücke akzeptierte, und verwundert über sich selbst, warum er gerade diesen Finger ausgewählt hatte. Lein war Rechtshänder und hielt sein Y-Com daher in der linken Hand. Um den linken Mittelfinder zu scannen, musste er folglich den Communicator in die rechte Hand nehmen, wobei das Verdrehen des Fingers nach rechts zusätzliche Mühe verursachte. Obwohl es erst drei Tage zurück lag, konnte er sich nicht mit Sicherheit erinnern, wie er das in England gemacht hatte, oder war es doch ein Finger der rechten Hand gewesen? In Abwägung aller Möglichkeiten entschied er, nicht nochmals die Stadtverwaltung aufzusuchen und lieber die beschwerliche Prozedur zu akzeptieren. Bevor er das Kaffeehaus verließ, übermittelte er noch dem Büro der Universität wie versprochen seine genaue Adresse und schloss dann gleich einen Online-Vertrag mit der örtlichen Kabelgesellschaft ab, den er auch umgehend aktivieren konnte, da die entsprechenden Anschlüsse in der Wohnung bereits installiert waren. Somit blieb ihm nur noch, die fehlenden Fernsehgeräte zu organisieren.
Lein hätte auch die in jedem beliebigen Online-Shop bestellen können und dazu nicht einmal das Kaffeehaus verlassen müssen. Er fühlte sich aber irgendwie dem älteren Herrn verpflichtet, der ihm so rasch und kostengünstig seine Kaffeemaschine repariert hatte. Schon tags zuvor hatte er sich gewundert, wie ein solch kleines Geschäft überleben konnte. Die meisten Elektrogroßmärkte rund um die Millionenstädte waren längst vom Online-Handel verdrängt worden, aber der nette Herr im Zentrum von Tübingen stand weiter mutig hinter seinem Ladentisch. Entweder hatte er ein interessantes Geschäftsgeheimnis, oder er sah schlicht keine Notwendigkeit Geld zu verdienen. So oder so, Lein wollte die Fernsehgeräte bei ihm erstehen. Der Laden war wie zu erwarten auch um die Mittagszeit geöffnet, und schon bald waren sie handelseins geworden. Der Empfehlung des Inhabers folgend entschied sich Lein für zwei Cloudnet-Fernsehgeräte mit Iris-Steuerung. Den Kauf einer ebenfalls preisgünstigen Musikanlage lehnte er mit dem Hinweis auf seine eigenwillige Beziehung zu Musik ab, deren Details er jetzt nicht erörtern könne, die aber jedenfalls das Abspielen von Musik in seiner Wohnung nicht einschloss. Ohne die Preise in Deutschland zu kennen, hatte Lein das Gefühl, die Fernsehgeräte günstig gekauft, in jedem Fall aber moralisch richtig gehandelt zu haben.
Leider konnte der nette Herr Zustellung und Montage der Geräte erst für den nächsten Tag zusagen. Lein war fest davon ausgegangen, nicht noch einen Abend ohne Fernsehapparat verbringen zu müssen, aber er brachte es nicht übers Herz, an diesem Punkt von dem Geschäft zurücktreten. Die Lieferung wurde also für Samstagvormittag vereinbart.
Zurück auf der Straße kontrollierte Lein die Notizzettel aus seiner Geldbörse. Bis auf zwei Punkte war alles erledigt, da stand nur noch CROISSANT und SALEM (wie alle seine Notizen auch diese in Großbuchstaben). Richtig, er hatte vorgehabt, die Bäckerei aus dem Stadtplan aufzusuchen. Die war ihm aber vom Stadtzentrum aus zu weit entfernt, weshalb er das Croissant-Problem auf Montagfrüh vertagte, wenn er zur Universität gehen würde. Warum aber hatte er SALEM notiert? Salem war die Hauptstadt seines Geburtsstaates Oregon, nicht weit von Eugene, wo er und sein Bruder die ersten Lebensjahre verbracht hatten. In Portland, der größten Stadt des Landes, war Lein oft gewesen, aber kaum jemals in Salem. Was war es bloß, das er eigentlich hatte aufschreiben wollen? SPIEGEL, das war’s, Spiegel hatte er schreiben wollen, weil im Flur keiner angebracht war.
Den Notizzettel in der einen Hand, die geöffnete Geldbörse in der anderen überquerte Lein in Gedanken und ohne auf den Verkehr zu achten den Stadtgraben und betrat den Alten Botanischen Garten von der Westseite her. Er setzte sich auf die erstbeste Bank und überlegte, ob die Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, richtig gewesen war. Plötzlich kamen ihm Zweifel, ob ihn die Tätigkeit hier seinem Ziel näher bringen würde. Die Hoffnung ruhte einzig auf den Kontakten zu Brasilien und China, denn in Tübingen oder Göttingen war die maschinelle Ausstattung keinesfalls ausreichend, um seine Theorie zu beweisen. Dagegen waren die Möglichkeiten an der Diamond Light Source geradezu ideal gewesen, immerhin stand dort ein Teilchenbeschleuniger zur Verfügung. Während seiner Anstellung in Durham hatte sich Lein mehrfach vergeblich bemüht, seine Versuche in die Reihe offizieller Tests aufnehmen zu lassen. Vielleicht hätte er gar nicht erst fragen sollen.
Zehn Jahre waren bereits vergangen, seit er seine zweite und endgültige Theorie der Öffentlichkeit präsentiert hatte. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass es Widerstand geben würde, neue Denkansätze fordern das geradezu heraus. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, derart heftig von allen Seiten angegriffen zu werden. Manche sogenannte Kollegen hatten versucht, ihn regelrecht zu vernichten. Inzwischen war die Aufregung um seine Arbeit abgeebbt, aber vergessen waren die Auseinandersetzungen nicht. Lein wusste jedoch, dass seine Ideen längst bis in die hintersten Winkel aller Gehirne gedrungen waren; wie ein Virus würden sie sich im Unterbewusstsein seiner Gegner festsetzen und irgendwann die Oberhand gewinnen. Er musste nur den richtigen Moment abwarten, um dann mit einem neuen Anlauf geradewegs auf den Nobelpreis zuzusteuern.
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