1 ...8 9 10 12 13 14 ...25 Das Klingeln an der Haustür hinderte Lein, sich länger mit dieser Frage auseinandersetzen. Peers Zimmertür war geschlossen, ihn konnte er also auch nicht fragen, und die Fernsehgeräte erwartete er ohnehin sehnsüchtig. Die Installation der beiden Apparate verlief ohne Komplikationen. Der Sohn des Geschäftsinhabers war mit einem ebenfalls jungen Kollegen gekommen, da niemand den fürs Wohnzimmer bestimmten Bildschirm allein hätte tragen können. Der Raum war groß, und so hatte Lein ein Gerät mit beinahe 1,5 Metern Diagonale erstanden, das dem ebenfalls imposanten Schreibtisch erhebliche Konkurrenz machte. Der deutlich kleinere und unauffällige Apparat für das Schlafzimmer wurde an die Wand montiert, in guter Sichthöhe vom Bett aus.
Nach weniger als einer halben Stunde verabschiedeten sich die beiden jungen Männer bereits wieder, und Lein konnte sich dem ersten Kaffee des Tages widmen. Er beschloss, entgegen seiner Entscheidung vom Vortag, so rasch wie möglich die Bäckerei auf dem Weg zur Universität aufzusuchen; wenn irgend möglich, sollte das sein letzter Morgen ohne Croissants sein. Angewöhnt hatte er sich diese Art des Frühstücks während seines Aufenthalts in der Antarktis. Ein französischer Meteorologe hatte mit einer ganzen Wagenladung davon den halben Tiefkühlraum gefüllt, und so bekam das gesamte zweiundfünfzigköpfige Forschungsteam den ganzen Winter hindurch jeden Morgen frisch aufgebackene Croissants serviert. Im arktischen Sommer, als die Crew auf weit über hundert Mitarbeiter anwuchs, reichte der Vorrat nicht mehr für alle, aber der hochintelligente Franzose war ein angenehmer Diskussionspartner geworden, auch wenn Meteorologie weit außerhalb von Leins Interessensgebiet lag. Jedenfalls war es ihm gelungen, in den Kreis der Privilegierten mit Croissant-Abonnement aufgenommen zu werden.
Und nun saß er in der Küche bei einer nackten Tasse Kaffee. Lein hatte das Entwickeln und Festhalten an Gewohnheiten bei anderen immer belächelt, dabei war er mittlerweile selbst zu einem Gewohnheitsmenschen geworden. Noch mehr überraschte ihn aber, dass er in der Küche Platz genommen hatte. Seit seiner Kindheit waren ihm Küchen immer beengt vorgekommen, Eckbänke ein Ort des Gedränges. Selbst wenn alle Großeltern zu Besuch gekommen waren (noch in Oregon, vor dem Umzug an die Ostküste), hatte sich die ganze Familie in der Küche versammelt, während Mutter das Essen zubereitete. Lein war dann meist in sein Zimmer geflüchtet. Es war klein, aber die wenigen Quadratmeter gehörten ihm allein.
Diesmal saß er freiwillig hier. All die letzten Jahre hatte er seinen Morgenkaffee immer im Wohnzimmer getrunken. War es Peers Einfluss, der ihn hierher zog? Und der Kühlschrank war nicht zu übersehen, neben der Tür ragte er drohend auf, Lein konnte ihn nicht aus seinem Blickfeld verdrängen. Das war zu viel, er füllte seine Tasse erneut und ging damit ins Wohnzimmer. Dort stieß er wieder auf die beiden Bücher auf dem Sofa. Er setzte sich und begann in Peers Büchlein zu blättern. Zwölf oder dreizehn Jahre musste es her sein; damals hatte es Lein auch gelesen, an Details konnte er sich aber nicht mehr erinnern.
»Politische Moral kann von der nicht partizipierenden Masse weder determiniert noch interpretiert, am wenigsten sanktioniert werden, da sie sich nicht durch ihre Wirkung auf und die Auswirkungen in der Masse definiert, sondern als geschlossene Kategorie in sich selbst und durch ihre Partizipanten, ebenso wie die der Wissenschaft idealiter zugeschriebene Ethik nicht den Vergleich mit der profanen Sittenmoral der Masse anstreben, sondern nur im Kreislauf von These und Antithese, quasi als circulus scientiosus, ihre Legitimität erlangen und aufrechterhalten kann.«
Sätze wie dieser, mit denen der Autor eine vom Gros der Menschheit unabhängig agierende Elite als Faktum und zugleich Notwendigkeit festschreiben wollte, hatten die Arbeit bekannt, aber auch umstritten gemacht. Wie Leins eigene Publikationen waren auch Peers Schriften immer kontrovers und auf gewisse Weise aggressiv, da sie neue und ungewöhnliche Gedankengänge offen und ohne Zurückhaltung darlegten. Während Lein mit seinen Theorien aber schlimmstenfalls die Gemeinschaft seiner Fachkollegen gegen sich aufbrachte, attackierte Peer mit seinen Texten die gesamte Zivilgesellschaft, vor allem linke Politiker fühlten sich durch seine Thesen provoziert. Dabei ging es Peer lediglich um eine Annäherung an die Wahrheit, Provokation war ihm ebenso fremd wie Lein. Wenn sein Bruder länger als ein paar Tage blieb, wovon Lein ausging, würden sie mit Sicherheit auch wieder über Peers Arbeiten diskutieren. Er musste ihn überreden, wieder zu schreiben. Auch wenn er seinen Stil übertrieben und arrogant fand, so waren Peers Aussagen immer eine Überlegung wert.
Inzwischen war es beinahe Mittag geworden, und Lein machte sich fertig zum Ausgehen. Das Ankleiden klappte diesmal schneller als am Vortag, nur einen Spiegel im Vorzimmer vermisste er immer noch – eine der Besorgungen, die zu erledigen waren. Zuerst aber wollte er den Weg zu Universität erkunden und dabei die Bäckerei aufsuchen.
Das Geschäft machte einen hellen und freundlichen Eindruck, die wenigen Tische waren ebenso sauber wie der Boden. Die Vitrine war reichlich gefüllt mit unterschiedlichsten Backwaren, die meisten davon waren ihm unbekannt. Lecker sahen sie alle aus, wenn auch alle etwas zu groß geraten waren, wie er fand. Und dann die Croissants: wie er sie gewohnt war, knusprig braun gebacken und von akzeptabler Größe. Die Beschriftung als Hörnchen konnte ihn nicht abhalten, sogleich eines zu versuchen – ja, bitte auch mit Kaffee, da hinten an dem Ecktisch. Vielleicht konnte es doch ein angenehmes Leben hier werden.
Das Gebäck schmeckte ausgezeichnet. Noch während der ersten Bissen versuchte Lein die auf der Eingangstür notierten Öffnungszeiten zu lesen, was von innen und aus zwei Metern Entfernung nicht einfach war. »Sonn- und feiertags geschlossen«, mehr konnte er nicht entziffern. Er war schon von seinen Kollegen in England gewarnt worden, dass in Deutschland die meisten Geschäfte sonntags nicht offenhielten, aber mit einem Schließtag pro Woche konnte sich Lein arrangieren. Sicherheitshalber bestellte er gleich ein zweites Hörnchen zum Kaffee und zwei weitere, die er für den nächsten Morgen mitnehmen wollte. Mit der Croissant-Tüte und einer neuen Packung Kaffeebohnen in der Hand verließ er den Laden.
Der Weg zur Universität führte ihn durch ein adrettes Villenviertel nach Norden und dann in großem Bogen links um einen locker bewaldeten Hügel. Mehrere parallele Straßen standen zur Auswahl, sodass er seine Route auch je nach Laune verändern konnte. Einen direkten Pfad durch den Wald hatte er nicht entdeckt. Beim Physikalischen Institut der Universität angekommen, ließ er dieses links liegen und ging direkt weiter bergab Richtung Zentrum.
Sein Routenplaner führte ihn zu einem Einrichtungshaus nahe dem Alten Botanischen Garten, ganz in der Nähe des Elektroladens. Bei vertrauten Produkten genoss Lein die Bequemlichkeit der Online-Bestellung, wenn es aber um Entscheidungen hinsichtlich Qualität und Ästhetik ging, mochte er sich nicht auf Abbildungen und Beschreibungen verlassen. Das Geschäft war schnell gefunden, ein hoher, schmaler Spiegel in schlichter Eleganz nach wenigen Minuten ausgewählt. Der Verkäufer hatte ihm einen Spiegel mit Gesichtserkennung angepriesen, der einer einmal erkannten Person alle tagesaktuellen Informationen einblenden würde, auf Wunsch auch mit Sprachsteuerung. Lein war moderner Technik nicht abgeneigt, aber seine Notizen verfasste er immer noch auf fliegenden Zetteln, der Nutzen eines intelligenten Spiegels schien ihm entbehrlich.
Er ließ sich ein Taxi kommen und ersuchte den Fahrer, das Paket im Hausflur, notfalls auch vor dem Eingang abzustellen, er würde es abends mit in seine Wohnung nehmen, wenn es bis dahin niemand entwendet hatte. Mit der Bezahlung des Taxis hatte Lein seine Vorhaben für diesen Tag erledigt. Eigentlich hätte er mit dem Taxi auch gleich mitfahren können, aber ihm war eine andere Idee gekommen.
Читать дальше