Auf dem Weg zum Einrichtungshaus hatte er die Universitätsbuchhandlung entdeckt. Jetzt hatte er Zeit genug, sich dort umzusehen, und wie erwartet gab es eine Abteilung für fremdsprachige Bücher. Lein richtete sich mit einer Auswahl an Büchern in einer der Sitzgruppen gemütlich ein und begann zu schmökern. Er ließ sich gern vom Zufall überraschen und hatte daher vier Bücher wahllos aus unterschiedlichen Bereichen entnommen. Er öffnete das erste Buch im letzten Drittel und fand sich mitten in einer Sexszene wieder.
»Langsam, ganz langsam über ihrer Brust zu kreisen, erst entfernt, dann immer näher, ohne Berührung, nur die Schwingungen zu spüren, vorerst nur in der Fantasie. Von dort ein kleiner Weg nur zum Mittelpunkt aller Gefühle, rasch der Gedanke, zögernd aber, ängstlich die Hand. Endlich der Entschluss, die Hand am Ziel, zitternd, dort wie ein Stromschlag, vom Zentrum nach allen Richtungen.«
Erst jetzt warf er einen Blick auf den Titel, der ihm das Genre Liebesroman schon vorweg verraten hätte. Das war nicht die Art Bücher, die Lein gewöhnlich las, aber etwas fesselte ihn an der Schilderung, und es war nicht die Erotik. Er schlug eine andere Stelle auf und traf auf eine Episode, die ihn trotz ihrer inhaltlichen Belanglosigkeit ebenfalls im Bann hielt.
»Sie sah zum Fenster hinauf und stellte sich vor, wie er hinter dem Vorhang stand und sie beobachtete, er wollte sichergehen, dass niemand sie kommen sah. Warum gab er sich mit ihr ab, wenn sie doch nicht in seine Welt passte? Sollte sie für immer unsichtbar bleiben? Sie würde seine Wohnung nie wieder verlassen, wenn sie sie einmal betreten hatte, das fühlte sie genau. Er würde sie der Welt entziehen, niemand würde es wahrnehmen, niemand würde sie vermissen ...«
Etwas an diesem Text verströmte eine magische Anziehungskraft, die ihn ins Innerste des Buches sog. Erschrocken legte er den Band beiseite und atmete kurz durch. Dann nahm er das nächste Buch zur Hand, einen Reiseführer für Delhi, den er nur kurz durchblätterte. Weder kannte er die Stadt noch hatte er die Absicht, Indien zu bereisen. Ein Roman von Georges Simenon erregte hingegen seine Aufmerksamkeit. Er hatte schon mehrere Kommissar-Maigret-Romane gelesen, weshalb ihm der Name des Autors im Regal ins Auge gesprungen war. Schon beim Überfliegen des Textes erkannte Lein jedoch, dass ›Die Glocken von Bicêtre‹ kein Kriminalroman sein konnte. Es war vielmehr die Geschichte eines Mannes, der seine Genesung nach einem Schlaganfall bewusst hinauszögerte und in der so gewonnenen Zeit sein bisheriges Leben an sich vorbeiziehen ließ.
Auch das vierte Buch stammte von einem Autor, den Lein kannte. Schon vor Jahren hatte er ›Die 27. Stadt‹ und ›Korrekturen‹ von Jonathan Franzen gelesen. Man könnte nicht sagen, dass sie ihm gefallen hätten, aber sie hatten ihn lange Zeit nicht losgelassen. Auch heute noch blitzten immer wieder Episoden daraus wie aus dem Nichts in seinen Gedanken auf. Obwohl sie ihn immer melancholisch machten, liebte Lein Gesellschaftsromane. In den meisten Familiengeschichten fand er einen Teil seiner Biographie wieder.
Als Lein die Buchhandlung verließ, war es etwa 18 Uhr, also Zeit genug, um vor dem Abendessen noch die Einkäufe nach Hause zu bringen. Mit zwei Büchern, Kaffee und Croissants in der Hand gönnte er sich ein Taxi für die Heimfahrt. Das Paket mit dem Spiegel fand er unversehrt neben der Haustür, in der Wohnung fand er Peer in der Küche sitzend. Er legte seinen Einkauf ab, widmete Peer aber außer einem kurzen »Hallo« keine weitere Aufmerksamkeit. Lieber wollte er so rasch wie möglich den Spiegel aufhängen. Wie erbeten hatte der Verkäufer das notwendige Befestigungsmaterial der Packung beigelegt, die Montage machte also keine Probleme. Erst als er sich im Spiegel betrachten wollte, erkannte Lein, dass das Licht im Flur schwach war. Hier musste in absehbarer Zeit eine bessere Lösung gefunden werden.
An diesem Punkt meldete sich Leins Magen mit einer heftigen Hungerattacke. Er faltete das Verpackungsmaterial, deponierte es in einer Ecke und rief zu Peer in die Küche: »Ich gehe etwas essen, möchtest du mitkommen?«
»Hast du schon wieder ein Stammlokal gefunden? Du weißt, dass ich da nicht hingehe.«
»Ich habe nur aus Höflichkeit gefragt.«
»Guten Appetit!«
Dann eben nicht. Er hatte nichts anderes erwartet, war aber letztlich froh, seine Kneipe allein aufzusuchen. Wer wohl heute bedienen würde, auf eine Diskussion mit Sebastian hatte er wenig Lust. Dazu kam es auch nicht, denn hinter der Theke standen an diesem Samstag zwei Frauen. Eine kannte er bereits von seinem ersten Besuch. Die deutlich größere Schwarzhaarige Anfang dreißig sah er zum ersten Mal; sie hieß Üsgül und stammte aus der Türkei. Die etwas Jüngere mit kurzen blonden Haaren, die ihn bei seinem ersten Besuch bedient hatte, hieß Lenka und war in Chomotuv geboren, einer Kleinstadt im Nordwesten Tschechiens. Nach der Schulzeit war sie zum Jobben nach Prag gegangen und erst vor zwei Jahren nach Deutschland übersiedelt. Üsgül hingegen hatte schon als Vierjährige mit ihren Eltern die Türkei verlassen und bereits in Deutschland die Schule besucht. Danach hatte sie Landschaftsarchitektur studiert, aber noch immer keine einschlägige Anstellung gefunden. Sie hatte dann als Sekretärin gearbeitet und war schließlich hier als Kellnerin gelandet.
»Suchen Sie noch weiter nach einem Job?«, fragte Lein, der die Plauderei mit ihr sichtlich genoss.
»Nicht intensiv. Ab und zu sehe ich die Stellenangebote durch oder höre mich bei früheren Kollegen um. Aber die meisten von ihnen haben selbst Schwierigkeiten.«
»Ich hätte gedacht, dass das ein Beruf mit großen Chancen wäre, im Wachsen begriffen.«
»Im Zusammenhang mit Naturschutz und Stadtplanung ist der Bereich in den letzten zwanzig Jahren stark gewachsen. Inzwischen haben aber zu viele dieses Studium absolviert, und der Markt ist gesättigt.«
»Und an der Universität? Gibt es da keine Möglichkeiten?«
»Es gibt nicht viele Unis, die diesen Studiengang anbieten. Und dort sind die Assistentenstellen auch heiß umkämpft.«
Lein fragte sich, wie die Situation am M.I.T. wohl heute aussah. Er hatte bereits in seinen beiden letzten Studienjahren nebenbei als Assistent gearbeitet. Seinem Bruder, der die knapp drei Kilometer entfernte Harvard University besuchte, hatte man einen Assistentenposten für die Zeit nach seinem Studium angeboten. Lein hatte ihn nie gefragt, ob er dem Angebot jemals nähergetreten war.
An diesem Abend war das Lokal bereits um 19 Uhr randvoll und die beiden Kellnerinnen hatten kaum Zeit, mit einzelnen Gästen zu plaudern, das Gespräch mit Üsgül musste seine Fortsetzung an einem anderen Tag finden. Leins Essen kam trotzdem nach nur fünfzehn Minuten. Er hatte diesmal einen Burger bestellt, den größten, mit allem Drum und Dran. Als er damit fertig war, bestellte er wie immer ein zweites Glas Bier. Ganz entgegen seiner Gewohnheit blieb er trotz des großen Andrangs noch geraume Zeit sitzen und ließ die Gedanken schweifen. Er hätte gern darüber nachgedacht, welchem Thema er sich für eine nächste Publikation widmen könnte, aber sein Blick blieb immer wieder an der makellosen Figur von Üsgül hängen. Sie trug ein weites, wallendes T-Shirt, aber hautenge Leggings aus dünnem, glänzendem Material, das alle Konturen deutlich abzeichnete. Sie hatte lange Beine, die in einem extrem kleinen Po endeten. Die meisten schlanken Frauen hatten zu dünne Beine, jene von Üsgül waren perfekt proportioniert, mit schlanken, aber dennoch deutlich geformten Waden und Oberschenkeln. Offenbar betrieb sie auch Sport, man konnte unter den beinahe durchsichtigen Leggings einzelne Muskeln erkennen. Das Gesicht war hübsch, aber nicht ebenmäßig. Vor allem war die Nase zu groß und lenkte von den schwarzen Augen ab, die jedoch ausgezeichnet zu den dunklen Haaren und dem dunklen Teint passten. Ihre Haltung könnte ein wenig aufrechter sein, das könnte ihr trotz ihrer Größe mehr Anmut verleihen. Das hatte Lenka ihr eindeutig voraus. Wie viele klein gewachsenen Menschen versuchte sie ihre Körpergröße durch aufrechten Gang zu kompensieren. Lenka den Eindruck, ungebunden zu sein, einem Abenteuer oder einer neuen Beziehung nicht abgeneigt. Üsgül war nicht nur älter, sondern wirkte auch gesetzter. Auch sie trug keinen Ehering, Lein war aber sicher, dass sie einen festen Freund hatte. Die meisten Männer würde das nicht stören, wenn sie nach einer kurzen Affäre Ausschau hielten; auch Lein hatte früher nie über solche Äußerlichkeiten nachgedacht. Gefiel ihm eine Frau, dann verführte er sie auch, und wenn er es wirklich darauf anlegte, hatte er nie einen Korb bekommen. In der Regel blieb es bei einem One-Night-Stand, nur ganz selten reizte es ihn, mit einer Frau öfter als einmal Sex zu haben. Dann aber würde er sich verlieben, und wie das enden musste, haben ihm seine zwei längeren Beziehungen vor Augen geführt. Nicht, dass die kurzen Affären immer friedlich geendet hätten, oft hatten sich Frauen zu viel Hoffnungen gemacht. Aber nach nur einer Nacht konnte auch die heftigste Auseinandersetzung nur an der Oberfläche kratzen, tiefere Begegnungen hatten schließlich gar nicht stattgefunden.
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