Vielleicht sollte er einen Liebesroman schreiben, ohne Happy End, dann konnte er genügend autobiographisches Material einbringen. Überhaupt könnte die Arbeit an einem Roman seinen Schreibstil verbessern. Peer hatte seine Formulierungen immer kritisiert – ebenso wie seinen Umgang mit Frauen – und Lein hatte seinen Stil damit verteidigt, dass es schließlich um Wissenschaft gehe, und nicht um Belletristik. Aber vielleicht reagierten die Menschen im beruflichen Umfeld genauso wie im alltäglichen Leben, wo die Verpackung eines Produktes mindestens so wichtig war wie der Inhalt. Er nahm sich vor, einige der anerkannten naturwissenschaftlichen Arbeiten nach diesem Gesichtspunkt hin zu untersuchen. Er wollte herausfinden, ob Einstein, Heisenberg oder Planck ihre überragenden Gedankengänge auch mit sprachlichem Schliff versehen hatten.
Die Zeit verging wie im Flug, und über seine eigenen Publikationen hatte er nicht wirklich nachgedacht. Ein letztes Bier rundete den Abend ab, ein letzter Blick in die schwarzen Augen, ein letzter Versuch, Lenkas Größe und Gewicht zu schätzen, dann war Lein auch schon wieder auf dem Heimweg. Erst als er vor seiner Haustür ankam, realisierte er, dass es regnete. Er muss den ganzen Weg so in Gedanken versunken gewesen sein, dass er es nicht bemerkt hatte, obwohl er inzwischen bis auf die Haut durchnässt war. Oben angelangt, entledigte er sich rasch der triefenden Kleider und nahm eine heiße Dusche.
Peer bekam er an diesem Abend nicht mehr zu Gesicht, er war offenbar schon schlafen gegangen. Auch Lein zog sich ins Schlafzimmer zurück und zwinkerte dem Fernsehapparat zu, um ihn einzuschalten. Es gab wieder Berichte aus Kasachstan, die Situation hatte sich offenbar noch nicht entspannt. Er wollte sich damit aber nicht näher auseinandersetzen. Sicher würde Wilhelm am Montag mehr als nötig darüber referieren.
Das Fernsehprogramm langweilte ihn, einschlafen konnte er aber auch noch nicht; also ging er nochmals in den Flur, um aus der Einkaufstüte den Simenon-Roman zu holen, den er zuvor nur überflogen hatte. Schon nach wenigen Seiten wurde Lein nervös, seine Unruhe steigerte sich von Kapitel zu Kapitel. Er hasste diesen Mann, der nach einem Schlaganfall bestens umsorgt und liebevoll gepflegt wurde, und der sich gehen ließ, sich ärgerte, dass man ihn wie ein kleines Kind behandle, wo er es doch war, der sich wie ein kleines Kind benahm. Er verabscheute diesen Snob, der alle Frauen taxierte, als wären sie ein Stück Obst, in das man hineinbeißen möchte. Noch bevor er in der Mitte angelangt war, legte er das Buch beiseite. Das weitere Schicksal des Protagonisten interessierte ihn keinen Deut, und ein mögliches positives Ende der Geschichte hätte er nicht ertragen. Was hatte er auch mit einer Krankenhausgeschichte zu tun, mit einem mürrischen Bettlägerigen, der alle Welt heruntermachte, anstatt dankbar zu sein, dass er nach nur zwei Tagen aus dem Koma aufgewacht war.
Ich muss wieder schreiben, dachte er, unbedingt wieder schreiben. Und während er begleitet von den Hintergrundgeräuschen eines Fernsehkrimis langsam einschlief, sah er sein Elternhaus mit den alten Holzfenstern vor sich.
Auch am Sonntag begegneten die Brüder einander nicht. Wann immer Lein an Peers Tür vorbeikam, war sie geschlossen, also durfte er keinesfalls gestört werden. Lein wusste, dass Peer kaum jemals ausging, dennoch konnte er ausnahmsweise das Haus verlassen haben, einen Wohnungsschlüssel hatte er ihm für alle Fälle ausgehändigt.
Leins Sonntag verlief unspektakulär. Die beiden am Vortag gekauften Croissants schmeckten immer noch ausgezeichnet, und während des Frühstücks überlegte Lein nochmals, ob er sich für den kommenden Arbeitstag vorbereiten sollte. Mit Sicherheit war eine Ansprache von Wilhelm zu erwarten, aber was danach geplant war, konnte er nicht wissen. Also verwarf er die Idee mit der Vorbereitung und konzentrierte sich lieber auf sein Frühstück. Die Frage der Croissants war gelöst, mit dem neu erworbenen Kaffee war er noch nicht zufrieden. Für Leins Geschmack war die Röstung zu mild, es konnte aber auch an den Bohnen selbst liegen, obwohl sie sich als hochwertige Arabica-Mischung ausgaben. Hier würde der eine oder andere Testeinkauf noch folgen müssen. Er genoss seinen Kaffee trotzdem, es bestand kein Grund zu übermäßiger Eile. Für ein paar Tage konnte er den milden Geschmack akzeptieren.
Lein begab sich ins Wohnzimmer, vorbei an Peers geschlossener Zimmertür. Sein Bruder hatte recht gehabt, er musste wieder schreiben. Er stellte sein Y-Com auf Computermodus, öffnete ein neues Dokument und überlegte. Mit Befriedigung stellte er fest, dass der holographische Bildschirm einwandfrei funktionierte. Die virtuelle Tastatur wurde auf den Tisch geleuchtet, der in die Luft projizierte virtuelle Bildschirm gab trotz der schräg einfallenden Morgensonne ein klares Bild, auch kleine Elemente waren deutlich erkennbar; er würde an diesem Platz also ungehindert arbeiten können.
Zum ersten Mal seit er die Wohnung betreten hatte, blickte er bewusst aus dem Wohnzimmerfenster, das beinahe die gesamte Breite des Raumes einnahm. Halbrechts, in etwas mehr als zwei Kilometern Entfernung, war das Stadtzentrum zu erkennen, dahinter das weitläufige Neckartal. Leins Haus lag auf einem der zahlreichen Hügel gut fünfzig Meter über dem Fluss, seine Wohnung im zweiten Stock erlaubte also vor allem Richtung Süden einen großartigen Ausblick.
Erst jetzt erkannte Lein, dass in der Mitte der Fensterwand eine schmale Doppeltür eingelassen war, die ihm Rätsel aufgab. Eine Tür, die man nicht durchschreiten konnte, war ihm noch nicht begegnet. Man würde dahinter einen Balkon erwarten, aber als er die Tür öffnete fand er nur ein direkt in der Türöffnung eingelassenes hüfthohes Gitter. Lein genoss das Gefühl, in der offenen Tür zu stehen und den Herbstwind in den Haaren zu spüren, beinahe wie auf einem richtigen Balkon. Zumindest stellte er sich das so vor, denn er hatte bisher ausschließlich in ebenerdigen Bungalows gewohnt. Nur seine Studentenbude am M.I.T. hatte im ersten Stockwerk gelegen, was durch das kleine, zum Hof gehende Fenster aber kaum zu erkennen gewesen war.
Als er die Tür wieder schloss, fiel ihm auf, wie altmodisch die Wohnung ausgestattet war. Fenster mit Holzrahmen hatte er zuletzt in seinem Elternhaus gesehen. Hier in Tübingen hatte sich der Rahmen auch noch verzogen, ganz abgesehen davon, dass die Tür von Hand zu schließen war.
Er ging zurück an seinen Schreibtisch und begann zu schreiben, oder vielmehr begann er, sich Gedanken über ein Thema zu machen. Natürlich hatte er die Idee mit dem Liebesroman nicht ernst gemeint, aber einen ernsthaften Roman zu schreiben, wäre schon eine spannende Herausforderung. Vielleicht sollte er in zwanzig Jahren nochmals darüber nachdenken. Jetzt wollte er sich seiner beruflichen Laufbahn widmen, aber sein Kopf war leer.
Das war neu für ihn. Es war zwar schon ein paar Jahre her, seit er das letzte Mal etwas publiziert hatte, aber die Themen waren ihm immer zugeflogen. Etwas hatte ihn fasziniert, eine Idee, ein Problem, und dann hatte er sich an die Arbeit gemacht. Er musste an die Gespräche in seiner Stammkneipe denken und an Sebastians Masterarbeit. Fälschungen waren ein interessantes und unerschöpfliches Thema, aber nichts für Lein. Er setzte sich nicht gern mit der Arbeit anderer auseinander. Was immer er bis jetzt erforscht und aufgeschrieben hatte, war aus ihm selbst entstanden. In seinem Fachbereich waren es auch eher Irrtümer, mit denen sich die Nachwelt herumschlagen musste. Fälschungen waren selten und von weit geringerer Tragweite als etwa in der Medizin.
Mit seiner großen Theorie hatte Lein die seiner Meinung nach größte Frage der Naturwissenschaft, vielleicht sogar die zentrale Frage der Menschheit geklärt, auch wenn das kaum jemand anerkennen wollte. Also musste er sich des Problems Nummer zwei auf der Liste der naturwissenschaftlichen Streitfragen annehmen, und das war immer noch die Unvereinbarkeit von Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Seit mehr als hundert Jahren bestanden diese beiden Theorien nebeneinander, und obwohl beide als bewiesen galten, widersprachen sie einander und schlossen einander gegenseitig aus. Die große, alles vereinende Theorie war noch nicht gefunden, hier hatte Lein sein neues Thema.
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