Das erinnerte ihn an sein Vorhaben, die Texte seiner berühmten Vorgänger auf ihre sprachliche Qualität hin zu untersuchen. Ein Blick entlang des Bücherregals offenbarte ihm, dass Peer seine Bücher nicht einfach wahllos ins Regal gestellt hatte, sie waren nach Fachgebieten, und darin wieder alphabetisch nach Autoren geordnet. So fand Lein mühelos Heisenbergs Unschärferelation und Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie. Neben Einsteins Text stand falsch eingeordnet ein vergleichsweise dicker Band mit den Vorlesungen über Thermodynamik von Max Planck. Lein konnte sich nicht an dieses Buch erinnern, Thermodynamik lag weit außerhalb seines Fachgebietes, auch jenseits seines Interesses. Und überhaupt war das ein Text für Studienanfänger, eine Einführung in die Grundlagen, bestenfalls hatte er ihn vor dreißig Jahren einmal überflogen. In Gedanken versunken begann er zu blättern und entdeckte so die rote Markierung bei Paragraph 2, der die Grundlagen des Wärmetausches beschrieb. Lein war schockiert; nie hatte er Markierungen oder andere Eintragungen in Büchern gemacht. Er liebte Bücher, er würde sie nicht verunstalten. Rasch blätterte er das ganze Buch durch und entdeckte noch zwei weitere Markierungen; einmal bei der Beschreibung des Ersten Hauptsatzes der Wärmetheorie, und dann bei Paragraph 112, wo ein ganzer Satz unterstrichen war:
»Ein Prozeß, der auf keine einzige Weise vollständig rückgängig gemacht werden kann, heißt irreversibel, ...«
Was sollte das alles, wer machte solch schülerhaften Eintragungen in seine Bücher, und war das überhaupt sein Buch, und wenn nicht, wie kam es in sein Regal? Verwirrt legte Lein das Buch beiseite und überlegte, was er eigentlich hatte tun wollen. Warum hatte er Einsteins Theorie in die Hand genommen? Es würde ihm wieder einfallen, aber jetzt verspürte er Hunger, heftigen Hunger, dessen Stillung keinen Aufschub duldete. Er musste sich um ein Mittagessen kümmern, also machte er sich fertig zum Ausgehen.
Erst im Treppenhaus machte Lein einen Blick auf das Display seines Y-Coms und erstarrte: es zeigte 18 Uhr. Wo war die Zeit hingekommen? Er hatte Kaffee getrunken und dann versucht, an einem neuen Text zu arbeiten. Zwischendurch hatte er noch für ein paar Minuten den Ausblick genossen, aber alles in allem konnte das nicht mehr als ein, zwei Stunden gedauert haben. Dann war er zum Bücherregal gegangen und hatte etwas herausgenommen, ein wenig gelesen, so vermeinte er sich zu erinnern. Und dann – war er wieder in Gedanken versunken? Er konnte unmöglich fünf oder sechs Stunden so dagestanden haben ohne einen Funken Erinnerung. Sein Magen krampfte sich zusammen, und daran war nicht der Hunger schuld. Er machte auf dem Treppenabsatz kehrt und ging zurück in die Wohnung. Dort durchsuchte er alle Räume bis auf Peers Zimmer, jeden Winkel durchstöberte er nach Hinweisen auf das, was er in den letzten Stunden getan haben könnte. Er hatte nicht ferngesehen, beide Geräte waren kalt, also seit längerer Zeit nicht in Betrieb gewesen. War er vielleicht so ins Lesen vertieft gewesen, dass er alles rund um sich vergessen hatte? Zwei wissenschaftliche Artikel lagen auf seinem Schreibtisch. Er erinnerte sich, sie aus dem Regal genommen zu haben, aber er war von etwas abgelenkt worden. Plancks Vorlesungen zur Wärmelehre lagen auf dem Fußboden. Genau, er hatte sich gefragt, wer diese banalen Sätze über Wärmeübertragung angestrichen hatte, aber weshalb hätte er diese Erstsemestervorlesungen von vorn bis hinten durchlesen sollen. Der Verlauf des Nachmittags blieb ein Rätsel. Lein war wütend, nicht verzweifelt oder ängstlich, nein richtiggehend wütend auf sich selbst, auf seine wachsende Unfähigkeit zur Selbstkontrolle. Sein Verstand war immer messerscharf gewesen, seine intellektuellen Fähigkeiten überragend, es war unumgänglich, die Herrschaft über jede Minute seines Lebens zurückzuerlangen.
Die Lust am Ausgehen war ihm vergangen, also diktierte er seinem Y-Com eine Pizzabestellung und bestätigte den Auftrag mittels Fingerprints. Eine halbe Stunde später hatte er die Pizza verzehrt und das Bier getrunken, die Abendtoilette hatte er bereits in der Wartezeit erledigt. Er legte sich ins Bett und nannte dem Fernsehapparat den Titel seiner Lieblingsserie. Er hatte nicht vor, an diesem Abend noch etwas Intelligentes zu unternehmen.
Montag früh hatte Lein eigentlich keine große Eile, das Arbeitstreffen in der Universität war erst für elf Uhr anberaumt. Da Peer noch schlief, hätte er sein Frühstück in Ruhe genießen können, diesmal im Wohnzimmer. Er wollte aber Frau Nehlinger nicht begegnen, die um neun Uhr kommen sollte. Also beschloss er, sein Frühstück in der Bäckerei auf dem Weg zu sich zu nehmen. Er trank nur eine kleine Tasse Kaffee und widmete sich dann dem Ritual des Ankleidens. Das wollte diesmal leider nicht reibungslos funktionieren. Draußen war es ungemütlich kalt, ein Unterhemd also erforderlich. Erst nach einigem Hin und Her erkannte er, warum die Verbindung von Unterhemd und Unterhose ihn nicht zufriedenstellte: das Unterhemd war zu kurz. Es ragte nur wenige Zentimeter in die Unterhose hinein, weshalb es bei jeder größeren Bewegung wieder herausrutschte. Er holte alle Unterhemden aus dem Schrank und breitete sie auf dem Bett aus, um das längste auszuwählen, so war das Problem zumindest für diesen Tag gelöst. Die letzte Kontrolle vor dem neuen Spiegel war noch mangelhaft, da durch das nordseitig gelegene Küchenfenster nur wenig Licht in den Flur drang.
Nur mit Mühe schaffte Lein, die Wohnung ein paar Minuten vor neun Uhr zu verlassen. Unten angekommen, wechselte er sofort auf die andere Straßenseite, um die Wahrscheinlichkeit einer Begegnung mit Frau Nehlinger zu vermindern. So gelangte er ungestört bis zur Bäckerei, wo er genügend Zeit für ein gemütliches Frühstück hatte.
Den Weg zur Universität kannte Lein dank seines Spaziergangs vom Samstag, auch innerhalb der Gebäude fand er sich nach kurzem Innehalten zurecht. Im Labor wurde er bereits erwartet. Ingenieur Lehmann kam ihm freudig entgegen, begrüßte ihn aber nur kurz und wandte sich dann dem unmittelbar hinter Lein eintretenden Dekan zu.
»Verehrter Herr Dekan«, begann Lehman, Wilhelm, seine Ansprache, »sehr geehrter Herr Prof. Olerson, geschätzte Mitarbeiter, liebes Team. Da wir nun vollzählig sind, können wir also beginnen. Es erfüllt mich mit Stolz, Sie heute hier im Namen der Universität und im Namen unseres Forschungsprojektes begrüßen zu dürfen. Wir haben eine große Aufgabe vor uns, die wir hoffentlich mit Bravour meistern werden. Sie alle wissen, wie dringend die Probleme sind, die wir zu lösen haben. Es geht um nichts weniger als die Zukunft der Menschheit.
Bevor ich vergesse, darf ich erst einmal alle miteinander bekannt machen. Herrn Professor Olerson und unseren Herrn Dekan Grabenmeyer brauche ich natürlich nicht extra vorzustellen. Hier an meiner linken Seite begrüße ich Frau Dr. Irene Kastawski, die sich bereits in Polen durch ihre Forschungen zur Entstehung von Sonnenstürmen profiliert hat. Die letzten Jahre hat sie als Dozentin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel verbracht. Zu meiner Rechten Herr Dr. Goran Sabakian, renommierter Astrophysiker. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit hat er sich auch als Vizepräsident der Armenischen Akademie der Wissenschaften große Verdienste erworben. Ich bin stolz, dass wir ihn überreden konnten, aus Yerevan hierher zu uns zu übersiedeln. Herr Dr. Sabakian wird neben der Arbeit an unserem Projekt auch eine Dozentenstelle hier am Physikalischen Institut übernehmen.
Unsere beiden Assistenten Christian Malker und Robert Leininger waren bis jetzt hier am Physikalischen Institut als Tutoren tätig. Ab sofort werden sie aber Tag und Nacht ausschließlich für unser neues Projekt zur Verfügung stehen. Sie können die beiden Herren gern mit jeder Art wissenschaftlicher Arbeit eindecken, beide sind in Physik beziehungsweise Mathematik promoviert.
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