„Nein!”
„Also dann! Was ist los?”
„Sagte schon – nichts!”
„Ron Gallagher! Ich glaube Dir kein Wort!” Je mehr er herumdruckste, desto beharrlicher drohte Emma nachzuhaken.
Ottokar gesellte sich plötzlich zu ihnen, was Ron als willkommene Störung empfand, die Emma davon abhielt, ihn weiter zu bedrängen. „Ron! Emma!” Er wandte sich Emma zu. „Kann ich mal mit Dir sprechen?”
Emma stutzte kurz und folgte ihm, als Ottokar bereits ein paar Meter abseits getreten war.
Sichtlich nervös ging er vor ihr auf und ab. „Also! Ich muss das jetzt mal loswerden. Ich habe damit schon lange genug gewartet. Was eigentlich bildest Du Dir ein?”
„Bitte? Ich verstehe nicht. Wieso bilde ich mir etwas ein?” entgegnete sie ihm überrascht.
„Ich frage Dich noch einmal, was Du Dir einbildest!”
„Ottokar! Was willst Du?”
„Die Wahrheit. Ich will nichts mehr als Wahrheit. Ja! Ich brauche Wahrheit. Das, was Du mir verschweigst.” Ottokar starrte auf Ron, der seinerseits fragend auf Emma blickte.
Allmählich beschlich Emma eine erste Ahnung, was Ottokar bedrückte. „Du meinst Ron? Du bist doch nicht etwa... eifersüchtig? Natürlich! Du meinst Ron! Und Du bist eifersüchtig.” Sie setzte sich vor ihm auf die Tischplatte. „Ich wüsste nicht, was Dich das angeht.”
„Und ob mich das was angeht. Wenn Du jemandem schöne Augen machst, dann solltest Du wissen, was das bewirkt. Dann solltest Du Dir auch Deiner Verantwortung bewusst sein. Oder hast Du es nicht so mit Wahrnehmung?”
„Was redest Du da? Ich habe Dir keine schönen Augen gemacht. Wie käme ich dazu?”
„Und was war das dann im Gesprächskreis?”
„Ich weiß nicht, was Du meinst. Hilf mir!”
„Das ist ja wohl...”
„Was ist das?” Emma suchte abermals Rons Blick, der ihr Gespräch interessiert verfolgte. Sie wandte sich Ottokar wieder zu. „Was soll das werden? Eine Szene etwa? Szenen sind etwas für Paare. Wir aber sind, wenn überhaupt, ein Team. Zwei mit einem gemeinsamen Interesse. Mehr nicht.”
Ottokar nahm seinen Kopf hoch. Er zitterte. Er klapperte mit den Augenbrauen, und sein Kopf wackelte leicht hin und her. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Ottokar glich einem Psychopathen, den das Pflegepersonal bei der morgendlichen Medikamentenvergabe vergessen hatte. „Du kleine Schlampe!” stieß er ihr schließlich entgegen.
„Bitte? Was hast Du gesagt?” Emma war zunächst verblüfft und Momente später entsetzt. Hatte sie tatsächlich richtig gehört? Sie hatte.
„Ich sagte, dass Du eine Schlampe bist.” Er erhob sich, sprang auf den Tisch, blickte hinunter auf Emma und schrie auf sie ein. „Schlampe! Du bist eine kleine Schlampe. Wie alle Frauen. Eine widerliche kleine Schlampe!”
Alle im Raum wurden sofort auf beide aufmerksam. Ron ging auf Emma zu, doch sie hielt ihn auf Abstand.
„Ottokar! Du hast schlecht geschlafen. Entspann Dich!”
Noch nervöser und aufgebrachter geworden rieb sich Ottokar beide Hände. „Ich bin entspannt,” raunzte er auf und war so entspannt wie ein Fisch, der an einer Angel zappelte. „Und sag mir nie wieder, was ich zu tun oder zu lassen habe!” Mit feuerrotem Kopf setzte er seine Wutrede fort. „Die Prüfung hättest Du ohne mich nie und nimmer geschafft. Ich habe Dir geholfen. Und Du? Was tust Du? Du wirfst Dich gleich sofort diesem Typen da an den Hals. Und warum tust Du das? Weil er besser aussieht als ich. Weil er besser fickt als ich. Du bist wie alle. Verblendet, blind und blöd. Von wahren Gefühlen hast Du doch keine Ahnung. Du spielst mit den Gefühlen anderer. Du bist berechnend. Ja! Du bist eine berechnende, kleine Schlampe!” Wütend kickte er mehrfach seinen rechten Fuß ins Leere. „Wahrscheinlich warst Du das Senftöpfchen in Deiner Straße. Jeder durfte mal sein Würstchen reinstecken. Und Du bist es immer noch. Vor Frauen wie Dir hat mich meine Mutter immer gewarnt. Du interessierst Dich doch allenfalls für die Cover von Büchern. Der Geist von Menschen ist Dir scheißegal. Du denkst, Du klimperst mit den Augen, und jeder liegt Dir zu Füßen.” Ottokar sprang vom Tisch und baute sich vor Emma auf. „Sieh mich an! Los! Sieh mich an!”
Emma setzte augenblicklich den strengsten Blick auf, den sie entwickeln konnte.
„Ich sage es noch einmal, vor allen anderen hier. Du bist das mieseste Aas von Frau, das mir je untergekommen ist.” Ottokar grinste sie hämisch an. „Heute Nacht. Fünf Mal! Fünf Mal, liebe kleine Emma! Und es war herrlich! Du kannst Dich als gefickt betrachten.”
Emma war tief getroffen. Instinktiv holte sie aus, um ihrem Ärger mit geballter Energie freien Lauf zu lassen.
Ottokars Tonfall wurde noch garstiger. „Na, los! Schlag zu! Schlag zu!”
Kurz bevor Emma ihm tatsächlich eine kräftige Ohrfeige versetzen konnte, stürzte Ron herbei und hielt ihren Arm zurück. „Nein! Emma, nicht!”
Ottokar grinste sie weiter gehässig an, als Emma kopfschüttelnd vor ihm stand.
Zwei Engel betraten sogleich den Raum und nahmen ihn in ihre Mitte. „Ottokar Wiegand. Komm doch bitte mit uns!” Die Engel führten ihn ab. Ottokar ließ sie willenlos gewähren. Er fing an zu lachen. Immer lauter lachte er, während alle anderen irritiert seinen Abgang verfolgten.
„Hey, Lady! War ’ne coole Show! Hast souverän reagiert. Jaman, das hast Du!” Arno war an Emma und Ron herangerollt und wollte seine Anerkennung weiterbekunden, da betrat Karim den Saal und verkündete eine weitere Überraschung an diesem Morgen.
„Hopp, hopp! Ihr Lieben! Der gute Ron und ich werden Euch jetzt einen Kreis höher führen. Im Zimmer nebenan löscht Euch ein Erzengel einen Eurer Buchstaben. Ihr habt die Prüfung bestanden.”
Alle tuschelten sogleich untereinander, einige sackten erleichtert durch, andere blickten immer noch ungläubig umher. Die Freude darüber, einen Kreis weiter aufsteigen zu dürfen, überwog schließlich. Allen war Ottokars Schicksal gleichgültig. Emma selbst war zur Prüfung geworden. Die Kommission hatte sie und Ottokar zusammengeführt, um Ottokar zu seinem Zornausbruch zu verführen.
„Dabei. Ich hätte ihm so gerne eine geknallt. Hab selten so ein starkes Gefühl gehabt, jemanden ordentlich zu verprügeln. Gar nicht auszudenken.”
Emma und Ron stiegen eine Viertelstunde später nebeneinander die Treppen zum vierten Kreis hinauf, während sie die Geschehnisse resümierten.
„Vergiss es einfach!”
Emma blieb stehen. „Ron Gallagher! So einfach ist das nicht. Nichts ist, wie es scheint. Schon vergessen?”
Ron blickte sie verwundert an.
Emma verharrte immer noch. Sie erinnerte sich an die Beiträge ihrer Mitstreiter, die sie über Zorn zusammengetragen hatten. Einer Anleitung gleich war Ottokar all diesen Regungen erlegen. Noch etwas beschäftigte sie. Genau so, wie Ron gerade neben ihr stand, hatte Ottokar neben ihr gestanden. Genau so, wie sie mit Ottokar die Stufen hochgegangen war, hatte Ron soeben an ihrer Seite den Aufstieg genommen. „Ich frage mich, was die hier wohl noch so alles anstellen.”
Karim hatte ihnen erklärt, dass an diesem Tag genug Zeit war, auch die vierte Prüfung anzugehen. Trägheit des Herzens also war zu büßen. Emma erinnerte sich an den alten Mann ohne Gesicht, der ihr das Boschbild von den sieben Hauptsünden erklärt hatte. Ein Priester hatte es sich in einem Stuhl bequem gemacht. Die Bibel lag geschlossen neben ihm. Der Ausschnitt des Gemäldes symbolisierte die Gleichgültigkeit gegenüber Gott und dem Glauben an ihn. Ging es jetzt um diese Ignoranz, befürchtete Emma, war diese Form von Trägheit durchaus ein echtes Thema für sie.
Sie hatten erneut einen Saal betreten. Einzeln wurde ein jeder von Engelshelfern aufgerufen und herausgeführt, ohne Vorbereitung, ohne jeden Hinweis. Verängstigte Nachfragen beantwortete Karim immer gleich, nämlich gar nicht.
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