Ron hörte den Arzt reden, was seine Worte aber bedeuteten, wusste er nicht. Hinter einer Glasscheibe blickte er mit Emmas Mutter und Conny auf ihren regungslosen Körper. Er war fassungslos. Er war geschockt. Die Mutter weinte. Seit vier Stunden hatte er darauf gewartet, sie endlich sehen zu dürfen. Ihre Mutter hatte ihn angerufen. Alle seine Sinne waren immer noch verklebt. Erst nach und nach hatte er begriffen. Emma hatte den Unfall überlebt, immerhin. Doch sie war, wie es hieß, am Rücken verletzt. Die ganze Nacht über blieb er bei ihr. Er hielt ihre Hand und redete mit ihr. Er hatte sich energisch für seinen Beistand durchsetzen müssen, bei der Mutter und dem Klinikpersonal gleichermaßen. Wie in Trance folgte er einer Verantwortung, die er bis dahin nicht gekannt hatte.
Am Vormittag betrat eine Schwester das Krankenzimmer der Intensivstation. Behutsam weckte sie Ron auf. Er war auf einem Stuhl neben dem Bett eingeschlafen. Er beobachtete, wie die Schwester Leitungen und Monitore überprüfte, Infusionen wechselte und ihm andeutete, dass er mit ihr reden konnte. Ron streichelte ihre Hand, als er entdeckte, dass Emma ihre Augen zu öffnen begann.
„Mama?” ihr Blick sah immer noch unklar, ihre Stimme war schwach. Getrübt nahm sie wahr, wie die Schwester an jemanden herantrat. Erneut schwärzte sich allmählich alles Licht vor ihren Augen.
„Ruhig! Ganz ruhig! Ich bin bei Dir.” Ron griff ihre beiden Hände, streichelte sie zärtlich, führte sie zu seinem Mund und küsste sie. Unsicher und ängstlich legte er Emmas Hand wieder zurück und ließ los. Die Schwester führte ihn aus dem Zimmer. Noch einmal blickte Ron auf Emma. Er musste gehen, doch er wollte nicht. Entsetzt wandte er sich schließlich ab.
Zurück im Loft verspürte Ron an diesem Vormittag wie noch nie zuvor ein tiefes Bedürfnis der Selbstreinigung. Seit einer halben Stunde schon stand er unter der Dusche. Langsam sackte er die Kachelwand hinunter. Sein Blick fiel auf eine Gummiente. Er nahm sie und streichelte sie liebevoll. Tränen folgten. Eine tiefe Leere und sein Gewissen quälten ihn gleichermaßen. Im Schlafzimmer sah er auf die Bilder, die unter der Decke hingen, auf die Bilder ihres Glücks, auf die Bilder ihrer Liebe. Betroffen schloss er die Augen.
Zwei Tage der Qualen und Hilflosigkeit vergingen. Stunde um Stunde hatte er auf dem Bett verbracht. Ron aß nichts, er trank nichts. Anrufe der Anteilnahme ließ er unbeantwortet. Kaya stand am Abend vor ihm, doch Ron schlug die Tür bei ihrem Anblick sofort wieder zu. Die Stunden, die Emmas Operation brauchte, verbrachte er in der Klinik. In einem Arztzimmer durfte er auf einer Pritsche ruhen. Bleich und zerstreut wie er war, befürchtete das Klinikpersonal, dass er den Anstrengungen nicht gewachsen war. Doch er wollte da sein, er wollte bei Emma sein. Bei seiner Emma. Er hielt die Gummiente fest in Händen und war eingeschlafen, als der Arzt ihn weckte. Er durfte endlich zu ihr.
Emma lächelte gequält, sichtlich erschöpft, und Ron lächelte gequält zurück. Er setzte sich neben sie, hielt ihre Hand und streichelte ihre Wange.
„Und? Wie war Dein Tag so?” hauchte sie ihm in all ihrer Gebrochenheit zu.
„Ging so! Und Deiner?” fragte er mit heiserer und trockener Stimme zurück.
„Ging so!”
Ron streichelte ihren Kopf. Er wusste nicht, was er sagen sollte und versuchte, ihren Blicken zu entgehen.
„Du schaust mich so anders an.”
„Wie denn?”
„Anders eben.” Emma blickte auf seine Hand, die ihre hielt. Die Berührung, die keine mehr war, wurde ihr immer unheimlicher.
„Was denkst Du?” fragte Ron, um irgendetwas zu fragen.
„Was Du wohl denkst?”
Er wartete lange, ehe er antwortete. „Dass Du Dich ausruhen musst. Dass ich bei Dir bin. Dass du die Operation gut überstanden hast.”
„Ja! Das hab ich wohl.”
Beide hielten eine Weile die Stille, das Schweigen des Leids, die Ruhe der Ohnmacht.
„Es ist komisch.”
„Was ist komisch?” fragte er und strich ihr über den Arm.
„Na, so zu liegen. Als schliefe man den ganzen Tag.”
„Hier bleibst Du nicht mehr lange. Hast es doch gehört. In zwei Wochen verlegen sie Dich in diese Spezialklinik. Dann kommen auch wieder andere Zeiten. Wirst sehen. Ruh Dich aus, hörst Du! Ruh Dich aus!”
Emma starrte ihn lange an. Tränen rannen ihr aus beiden Augen die Wangen hinab.
Ron versuchte, sie zu beruhigen. Behutsam streichelte er ihren Kopf und wischte ihr die Tränen von beiden Wangen.
„Ron!”
Er rückte näher an Emma heran. Ganz nahe rutschte er zu ihr, sein Ohr an ihren Mund gepresst. „Was denn?”
„Ich kann Deine Hand nicht spüren. Ich kann sie nicht spüren.” Emma weinte Tränenbäche. „Bitte, Ron! Geh nicht weg! Lass mich nicht allein, ja? Lass mich nicht allein!” schluchzte sie und drehte ihr Gesicht zur Seite.
„Nein! Natürlich nicht! Ich bin hier. Bei Dir.” Mit beiden Händen griff er ihren Kopf und küsste ihre Stirn.
Eine Schwester betrat das Zimmer. Sie spritzte Emma ein Beruhigungsmittel. Wortlos forderte sie Ron auf, seinen Besuch zu beenden.
„Es ist spät! Ich sollte jetzt wirklich gehen. Ruh Dich aus, hörst Du? Ruh Dich aus! Ich komme morgen wieder. Versprochen. Wenn Du etwas haben willst, sag es den Schwestern, ok?”
Emma nickte benommen.
Er küsste sie und verließ, den Blick nicht von ihr abwenden wollend, das Zimmer. Auf dem Flur entdeckte er Emmas Mutter, die weinend in des Erzeugers Armen lag.
Seine Diagnose war fürchterlich. Ron hörte den Arzt, der ihm und den Eltern in seinem Zimmer mit den Auswertungen der Röntgen- und Tomografiebilder das Krankheitsbild Emmas zu erklären versuchte, nur noch verzerrt. Er wankte. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Doch es war so.
„Es tut mir sehr Leid. Aber sind wir erst einmal erleichtert. Immerhin kann sie noch selbständig atmen.”
Kreidebleich und starr vor Entsetzen verließ Ron das Arztzimmer. Er ging mehrere Flure entlang. Immer schneller wurde sein Gang. Fast fluchtartig stürzte er aus der Eingangstür der Klinik und lief über den Parkplatz. Er fiel erschöpft auf eine Motorhaube. Er verharrte. Bis alle Dämme brachen. Ron weinte bitterlich. Emma, seine Emma, die Frau, er liebte, die er belogen und betrogen hatte, und die er doch so vergötterte, diese so wunderbare Frau, seine Emma, ausgerechnet seine Emma, war ab dem vierten Halswirbel querschnittsgelähmt. Für den Rest ihres Lebens, so die alles vernichtende Nachricht, konnte sie nur noch ihren Kopf bewegen.
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