Im Zimmer nebenan, in ihrem Reich, musterte sie die Schaufensterpuppen. Ohne ihre Kleider sahen sie reichlich nackt aus, dachte sie, setzte sich auf das Podest und trank einen Schluck Rotwein. Sie betrachtete eine der Puppen genauer. „Ach, Gott, George! Sei bloß froh! Du musst auf niemanden Rücksicht nehmen.” Emma erhob sich und hielt ein Kleid an sich, das Kleid, ihr Kleid nämlich, das sie auf der Show tragen wollte. Sie sah durch einen riesigen Spiegel auf sich selbst. Emma gefiel sich ausgesprochen gut. „Jede Frau ist ein Geschenk Gottes. Und weißt Du? Ich darf es verpacken.” Ihr Blick auf die Puppe George wurde noch eindringlicher. George war über und über mit Schnittmustern, Essensbelegen und Fotos beklebt. Ihm fehlten die Arme, seine Gesichtszüge waren streng, und Haare aus Plastik zierten wild den Kopf. Sie heftete den Zettel mit Rons lapidarer Beistandsbekundung an die Puppe. „Und weißt Du noch was? Das Beste an Dir ist, dass Du keine dummen Fragen stellst. Und dass Du zuhören kannst. Einfach nur zuhören.” Sie setzte George eine Schiebermütze und Sonnenbrille auf. Dann legte sie sich rücklings auf das Podest und schloss die Augen.
Am Abend der wichtigsten Herausforderung ihres Lebens waren alle ihrer Einladung gefolgt. Gespannte Erwartungen knisterten ihr entgegen, Premierengäste tuschelten, Kritiker wetzten ihre Stifte. Nur ein Platz blieb leer. Emma verwarf ihren Frust über Rons Fernbleiben und rieb sich unruhig die Hände, als sie gespannt durch die Vorhänge blinzelte und ihren Blick vom Publikum abwandte.
Hinter den schweren Vorhängen herrschte hektisches Treiben. Models liefen aufgeregt wie kleine Kinder hin und her, suchten nach ihren Kleidern und zupften an sich selbst oder anderen herum. Maskenbildner und Hairstylisten eilten umher, die Beleuchter und Techniker gingen ein letztes Mal den Ablaufplan durch. Oleg, mit hautengen Klamotten bekleidet, bürstete zusammen mit Emma so penibel und kräftig letzte Fussel von jedem Kleid der hageren Mädchen, als ginge es darum, Pferde für eine Feiertagsparade zu striegeln.
„Was ist? Ist die erste Gruppe fertig?” Ein anderes Model präsentierte sich beiden. In all dem Durcheinander versuchte Emma, Ruhe und Souveränität zu bewahren, dabei durchströmte Adrenalin in nie zuvor gekannten Schüben ihre Adern. Beleuchter testete ihre Verfolger. Für einen Moment stand Emma selbst in gleißend hellem Rampenlicht.
Blitzlichter erhellten in der Lounge-Bar die Szenerie. Zahlreiche Fotografen bannten die kreativen Köpfe einer Werbeagentur in ihre Kameras, die im Auftrag der Stadt eine eigentlich ziemlich miese Imagekampagne entworfen hatten, wie Ron befand. Der Geschäftsführer wurde soeben vom Wirtschaftssenator geehrt, als er, tief gelangweilt von dem Geschehen, seichte Melodien anschlug. Er grinste Kaya zu, die die Gäste gleichfalls so gar nicht mochte, wie sie unverhohlen mit ihrem Fratzenspiel deutlich machte.
Kleinere Gruppen hatten sich gebildet, als die Ehrungen beendet waren. Es wurde getrunken und dumm palavert, urteilte Ron über ein paar Gesprächsfetzen, die er vernahm. Er betrachtete sein Publikum. Eine Frau mit praller Oberweite und dem faltenreichen Lächeln ihres sonnenstudiogebräunten Gesichts trat an sein Klavier. Sie flirtete mit ihm, zog aber wieder davon, als Ron ihr offensichtlich entgegnet hatte, dass er ihren Musikwunsch weder spielen wollte noch konnte. Kaya kam mit einem Glas Brandy zu ihm an den Flügel. Sie stellte das Glas ab und musterte ihn.
„Sie wollte, dass ich „My Way” spiele.” Sein Tonfall klang verächtlich, und doch blieb er smart, als er von weitem ihr breites Lächeln neuerlich vernahm.
„Wie ordinär. Ihr gehört die Agentur. Was hast Du ihr gesagt?” Kaya strich ihm werbespottauglich die Wange.
„Dass der Abend noch jung ist.”
„Interessiert sie Dich?”
Ron schüttelte verneinend den Kopf. „Zu mächtig!”
Kayas Gang zurück amüsierte ihn. Sein Blick fiel auf ihren engen Rock, auf ihre langen Beine und auf ihren Po, mit dem sie liegende Achten in die Luft zauberte.
Auch Emma blickte auf allerlei verführerische Weiblichkeiten, die barfuss in ihren Kleidern den Laufsteg auf- und abschritten. Moderne Eleganz, einfache Schnitte, flippige Stoffe und witzige, multifunktionale Kleider – die Gäste waren begeistert. Bis hierher, fieberte Emma, war ihre Schau ein großer Erfolg. Lief jetzt das Finale noch glatt, setzte sie ihrem Können die Krone auf.
Die Lichter erloschen. Meterlang wehten Stoffe, von verschiedenen Blautönen beleuchtet und von zwei riesigen Ventilatoren beströmt, am Steg seicht im Wind. Emma schaute aus dem Vorbereitungsraum gespannt auf ihr Publikum. Der Höhepunkt ihrer Show war erreicht, für den zu arbeiten es so viel an Zeit und Kraft und Liebe gebraucht hatte. Oleg stand abseits, die Stöpsel eines Quarzplayers in den Ohren. Er rauchte einen Joint und hielt eine Flasche Rotwein in den Händen. Die Glocken läuteten, das Ticken des Weckers ertönte. Oleg trat an Emma heran. Er griff ihre Hand. Sie nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche.
In der Küche der Bar schien nur fahles Licht. Billige Tanzmusik ertönte von nebenan. Blitzblank glänzte die Edelstahlfläche einer Arbeitsplatte. Mit einem Messer legte Ron gekonnt zwei Linien Koks aus. Er zog ein Silberröhrchen hervor, saugte das Pulver in sich hinein und reichte das Röhrchen weiter. Auch Kaya genoss den kleinen Trip, als in ihr angekommen war, was das Leben sonst nicht schaffte. Sie leckte ihren Zeigefinger und begann, sich im allerkleinsten Kreis zu drehen. Sie glitt sich mit beiden Händen in ihren Schoss. Ron drehte sich ab und wollte gehen, da griff Kaya einen Stuhl, stellte die Rückenlehne vor die Tür, so dass die Klinke blockiert war und wandte sich ihm zu. Sie zog ihr Kleid aus. Sie war nackt und in diesem Licht so verführerisch schön. Ron hielt Augenblicke später nichts mehr.
In der Kirche loderten Fackeln. Karibische Trommelmusik setzte ein, und während Ron in der Küche immer heftigeres Verlangen durchzuckte, dirigierte Emma energisch ihre Kriegerinnen, während der Teufel auftrat, von einem Lichtkegel umrahmt. „Lieben sollt Ihr Euch! In guten wie in schlechten Tagen. Den anderen ehren. Euch selbst aufgeben, damit Ihr wahrhaft lieben könnt. Treu sollt Ihr sein. Treu bis in den Tod. So steht es geschrieben.” Er gestikulierte mehrfach diabolisch auf, grinste während seiner Redepausen und unterstrich seine Sätze mit gekonntem Zungenspiel. „Ich aber sage Euch. Das wahre Wesen der Liebe ist Leid. Eure Lust ist größer als jedes Versprechen. Ihr begehrt, was Ihr nicht kennt. Ihr seid Gefangene Eurer Abgründe. Eurer Ängste. Bis in den Tod. Und Ihr werdet ihr erliegen, der Versuchung. Meiner Versuchung.” Ein teuflischen Lachen hallte auf.
Emma war sichtlich zufrieden, alle hielten ihre Ordnung und gaben, was sie an Talenten besaßen, wie Kaya, die in ihrer Lust nicht mehr zu bändigen war. Junge, schöne Frauen liefen engelhaft durch farbige Lichtkegel, durch Weißlicht, durch Rotlicht, erotisch bewegten sie sich zum Takt der Musik, während Ron und Kaya ihrer zügellosen Gier erlagen. Elfen saßen auf dem Boden des Steges und räkelten sich den Gästen entgegen, Jubel brandete auf, als Emma alle Fabelwesen ein letztes Mal auf den Steg schickte. Mit dem finalen Takt der Trommeln fielen sie nieder, sich ergebend, in einen tosenden Applaus, erschöpft, beseelt, wie Ron und Kaya, die auf ihre Art abgeliebt langsam zu Boden glitten.
Seit zwei Stunden schon feierten alle ihren Erfolg, doch Freude wollte bei Emma immer noch nicht aufkommen. Sie stand abseits und blickte auf die Gäste ihrer Aftershow-Party. Zum wiederholten Male hatte sie vergeblich versucht, Ron zu erreichen. „Dieser Scheißkerl!” fluchte sie leise.
„Wirklich gelungen. Und so provokant.” Zwei Männer sprachen Emma unvermittelt an, als sie ihren Frust zu verdrängen suchte. „Wie Sie dann noch so ganz nebenbei das ewige Thema Liebe, ich meine... Schuld und Versuchung inszeniert haben. Großartig!”
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