„Es gibt aber auch zum Beispiel den Zorn Gottes, eine Art gerechtes Erzürnen hinsichtlich der Missstände, die von Menschen verursacht worden sind.”
„Zorn ist immer gegen eine bestimmte Person gerichtet, die nicht das tut, was man sich vor ihr erhofft.”
„Zorn ist hirnlose Raserei. Nimm den ehemaligen amerikanischen Präsidenten George Bush. Der Idiot hat vor lauter Jähzorn über ein paar Dutzend fanatische Glaubenskrieger einen Religionskrieg angezettelt, der die Menschheit auf Jahrzehnte bedroht.” Emma schaute einen jeden prüfend an. „Ja, was denn? Ihr könnt ruhig mal was von Bedeutung sagen, statt ständig das zu wiederholen, was sie vorgegeben haben. Hallo? Habt Ihr alle Euren Verstand ausgehängt?”
„Wer seinen Zorn bezwingt, hat seinen Feind besiegt.”
„Eine Strafe im Zorn kennt weder Maß noch Ziel. Sobald der Mensch in Zorn gerät, ist er im Irrtum.”
„Der Gegensatz von Zorn ist Sanftmut.”
Fabiana kam mit der Niederschrift ihrer Aussagen nicht mehr nach und bat um eine kleine Unterbrechung.
Emmas Einwand hatte niemanden interessiert. „Ich kann nicht mehr. Ich knall gleich durch!” Sie verabreichte sich selbst eine Unterbrechung und suchte Abstand.
„Hey, Lady! Nur weil Du schlappmachst, müssen wir nicht darunter leiden. Ich sag Dir. Die Jungs, die uns morgen früh prüfen, sind unberechenbar. Man muss zocken können, um bei denen zu bestehen. Zocken, verstehst Du?”
„Arno, richtig? Arno Blecker, so heißt Du doch, richtig?”
„Jaman, Lady! Ich bin der Arno.”
„Also, Arno! Erstens. Wann und wie lange ich mich mit was oder wem beschäftige, ist allein meine Sache. Wie käme ich dazu, auf Dein Gequatsche auch nur mit einer Schwingung zu hören. Zweitens. Ich bin nicht Deine Lady!”
Kalle trat an Emma heran. „Lady! Bleib locker! Sitzen doch alle im selben Boot. Brauchst wohl mal wieder ’ne ordentliche Verbürstung, wie?” flüsterte er ihr hämisch zu.
Emma spürte, wie ungehaltener ihre Laune wurde. „Du hast mir gerade noch gefehlt. Lass mich doch einfach in Ruhe.” Sie stockte innerlich, als sie durch die Runde schaute. Setzte sie sich weiter mit denen aus der Gruppe auseinander, die sie nicht mochte, wurde sie noch wütender. Und nach Wut kam Zorn. Sie wandte sich ab, nahm einen Tee und ein Stück Trockenfleisch, das ihr eine Engelshelferin am Nachmittag gebracht hatte und setzte sich, den anderen ihren Rücken zukehrend, abseits an einen der Tische.
Emma wusste von sich selbst nur allzu gut, wann sie ungerecht wurde, meistens jedenfalls. Das war so ein Moment. Sie war mit sich selbst ausgesprochen unversöhnt. Ron hatte ihr gewissermaßen das alte Leben ins Bewusstsein gerückt. Oskar war tot. Ihre Reise durchs Jenseits gestaltete sich schwieriger, vor allem aber länger als angenommen. Zugegeben. Im Fegefeuer war es auszuhalten. Doch die Zeit rannte. Ihre Mutter machte sich sicher schon große Sorgen, und dass Luzifer ihr weiter nachstellte, vorausgesetzt, sie würde das ewige Licht tatsächlich erblicken, bedrückte ihr Gemüt in einem Maß, das sie zu überfordern drohte.
Sie verfolgte wieder den kleingeistigen Aktionismus um sie herum. Pfarrer Friedrich, Sophia, Molly und Holger waren auserkoren, das Theaterstück zu schreiben, das sie am nächsten Morgen zum Thema Zorn vortragen sollten. Kalle, Sergej, Ottokar, Fabiana und dieser Freak von Arno saßen, wie zu einer Quizshow bereit, nebeneinander und verfolgten zum wiederholten Male die Dokumentation. Alle trugen Kopfhörer. Emma malte sich aus, wer von ihnen wohl die Prüfung nicht bestehen würde. Mehr und mehr war eine Feststellung in ihr gereift. Das Prüfungsthema Zorn war nur ein Vorwand. Tatsächlich war längst schon entschieden, wer in die Warteschleife musste. Ottokar maß sie so viel Verstand zu, zu einer gleichen Einschätzung gekommen zu sein. Doch der verfolgte entweder aufmerksam die einstündige Zusammenfassung zum Stoff auf dem Screen oder las in einem der Bücher. Vermutlich konnte er bereits alle Beiträge auswendig. Dieser Arno konnte von der Zornprüfung am vergangenen Morgen nichts Wesentliches berichten. Alle hatten ihn sofort ausgiebig danach gefragt. Emma wertete diese Nullinformation als weiteres Indiz für ihre Einschätzung. Längere Zeit beobachtete sie ihn. Hatte er vielleicht etwas mit dem eigentlichen Test zu tun? Er war Rollstuhlfahrer, er war behindert und obendrein ein ziemlich schräger Vogel. Ein Großmaul eben, über das sie sich bereits nach wenigen Worten gehörig ärgern konnte. War Arno als Reizfigur eine Hürde für sie? Emma beschloss den Gedanken. Derart einfältig konnte Gottes Personal nun wirklich nicht sein. Oder doch?
Eine gute Stunde später, Emma hatte vor sich hin gedöst und war von Arno reichlich unsanft aus ihrem Zustand geweckt worden, saßen alle wieder beisammen. Pfarrer Friedrich verteilte die Rollen ihres entwickelten Werkes. Dazu gab er jedem eine Beschreibung der Figuren an die Hand. Fabiana hatte sich mit ihrer Schreibarbeit ein Fleißsternchen verdient. Auf eine Probe wurde verzichtet. Ihre Kreativität sollte weder bestimmt noch gebändigt werden, wie alle einstimmig festhielten. Die Stärke ihres Vortrags sollte die Improvisation sein. Jedenfalls waren sie alle der Legende nach Verschollene auf einer einsamen Insel. Sie alle trugen Zorn in sich, aus unterschiedlichen Gründen. Sie alle waren aufeinander angewiesen. Sie alle mussten sich arrangieren, ihren Zorn zügeln. Das war der Inhalt ihrer Vorführung. Brecht ließ grüßen, dachte Emma und erinnerte sich dunkel ebenso an den Deutschunterricht zum Thema Improvisationstheater wie auch an den anschließenden Theaterbesuch mit der Klasse, bei dem eine gewisse Mutter Courage bewies. Genaueres hatte sie vergessen.
Wer wollte, konnte die Nacht über in dem Raum bleiben, um sich weiter auf die Prüfung vorzubereiten. Emma wollte nicht. Auch, weil von Ron weit und breit nichts zu sehen und zu hören war. Ausgestattet mit zwei Wachsbällchen, die sie am Nachmittag aus einer Kerze geformt hatte, legte sie sich in der üblichen Gemeinschaftsunterkunft auf einer der Matratzen ab. Sie hatte geduscht und ein weiteres, allen anderen so artfremdes, Bedürfnis erledigt. Emma war müde. Ihr Körper holte sich zurück, was sie in den letzten Tagen an Kraft gelassen hatte. Gegen elf Uhr fiel Emma in einen festen Schlaf, der erst endete, als ein Hahn unerträglich laut durch die Lautsprecher krähte.
Um acht Uhr bereits saßen alle wieder in jenem Saal zusammen, ganze zwei Stunden vor der Prüfung. Einige lasen in den Büchern, andere verfolgten zum unzähligen Male die Dokumentation. Emma spürte die Nervosität aller. Es kam ihr so vor, als wenn die meisten befürchteten, über Nacht ihres Wissens vom gestrigen Tag verlustig geworden zu sein.
Ron betrat das Zimmer, und augenblicklich gehörte Emmas Aufmerksamkeit allein ihm.
Ottokar verfolgte, wie Emma aufsprang, auf ihn zueilte, ihn zur Seite nahm und herzlich umarmte.
„Das tut so gut, Dich zu sehen. Wo warst Du?” Emma genoss unverkrampft seine Nähe. Sie wollte sich endgültig fallenlassen, da verharrte sie für einen Moment. Ron roch anders, wie sie immer noch vernahm, doch sie konnte den Duft in ihrer Nase so gar nicht einordnen.
„In einer der Personalunterkünfte,” bemerkte Ron wie selbstverständlich und entzog sich Emmas Umarmung.
Emma spürte seine Verlegenheit. „Was ist los?”
„Nichts! Was soll sein?”
„Ron Gallagher! Was ist mit Dir los?”
„Ich hab mich umgehört. Eine Verkürzung kannst Du vergessen. Der Zugang zum Treppenhaus öffnet sich nur in festgelegten Zeitfenstern. Und auch nur von Kreis zu Kreis.”
„Das war doch irgendwie klar.” Emma musterte ihn strenger. „Aber das habe ich weder gefragt noch gemeint. Mit Dir stimmt doch was nicht. Jetzt sag schon! Haben sie Dich etwa enttarnt?”
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