Harro Pischon - Der Gotteswagen

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Beate Lehndorf ermittelt in ihrem zweiten Fall: Im winterlichen Berlin werden zwei Mädchen tot aufgefunden, weggeworfen wie Abfall. Nach der Flucht einer jungen Frau aus dem Privatgefängnis einer evangelikalen Sekte konzentrieren sich die Ermittlungen auf «Das wahre Leben». Die Geschichte der Sekte reicht zurück in die DDR und der «Hirte» war in die Machenschaften der Stasi verstrickt. Sein ehemaliger Führungsoffizier ist inzwischen seine rechte Hand. Beate Lehndorf kümmert sich auch privat um die geflohene Circea und versucht noch weitere Gefangene zu finden. Doch der Arm der Sekte reicht bis in Polizeikreise, sodass ein verdeckter Ermittler des LKA in Gefahr gerät.

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Der Gotteswagen

Beate Lehndorfs zweiter Fall

Kriminalroman

Harro Pischon

2014

Verbotene Freigebigkeit . - Es ist nicht genug Liebe und Güte in der Welt, um noch davon an eingebildete Wesen wegschenken zu dürfen.

Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches

Die Aggression im Dienste des Ideals beruht auf einer undifferenzierten Wahrnehmung der Umwelt, in der es keine Abstufungen, keine Nuancen, keine Veränderungsmöglichkeiten gibt, sondern nur Freunde und Feinde, Teufel und Götter... Die Wut des Fanatikers ist erstarrt, sie trägt ihre Lösung in idealisierten Zielen. Die Lösung der Gefühle von ihrem fließenden, an- und abschwellenden, wandelbaren Verlauf, ihre Verbindung mit verfestigten, erstarrten Idealen und Erwartungen – das ist der „Todestrieb“ im menschlichen Leben.

Wolfgang Schmidbauer, „Alles oder Nichts – Über die Destruktivität von Idealen

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Virginia

Kapitel 13

Lisa K.

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16 Karl-Marx-Stadt 1965

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Magdalena

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Epilog

Nachbemerkung

Prolog

D a oben, wo sich Wand und Decke trafen, hatte sein Weg angefangen. Im fahlen Licht hatte er geglitzert, nur so war er zu sehen. Dann quälte er sich unsicher die Wand hinunter, abgelenkt von einem Sandkorn, einem Farbklecks, nach rechts zitternd, nach links, endlich wieder nach unten, wo er hinwollte. Er hinterließ eine feuchte Spur auf der einst weiß gestrichenen Wand, die jetzt grau war, schmutzig grau, spärlich beleuchtet durch einen Spalt in den Fensterläden aus Metall. Dann stockte er angesichts dieser Wulst, die die ganze Wand entlangführte. Hier begann die graue Ölfarbe, die bis zum Boden reichte. Er verharrte, sammelte Kraft, ja, du schaffst es, hab Geduld! Und dann wälzte er sich über die Wulst und nahm Tempo auf. Die Ölfarbe setzte nicht so viel Widerstand entgegen, er wurde schneller , bis - der Wassertropfen im Boden versickerte.

Tränen der Erleichterung flossen über ihre Wangen. Noch hatte sie Tränen, woher immer die Flüssigkeit kam. Sie hätte hinstürzen sollen zur Wand und den Wassertropfen auflecken wie schon so viele, die ihren Weg davor gegangen waren. Doch sie war schon zu schwach, saß auf ihrer Pritsche an die Wand gelehnt und sah den T ropfen gegenüber zu. Manchmal wollte ihre Zunge die schrundigen Lippen befeuchten, doch sie war nur ein trockenes Stück Fleisch in ihrem Mund.

Ihre Arme, ihre Hände waren selbstständig, sie vollführten einen seltsamen Tanz in der Luft, als beteten sie, ob nicht doch ein Wunder geschehen könne. Aber für sie gab es kein Wunder. Die gab es nur für die Guten, die Braven, die Erleuchteten. Ihr, Amira, war die Strafe vorbehalten. Die Beine trugen sie schon nicht mehr, die Stimme war versiegt, die Augen glanzlos, die Haare strähnten durcheinander. Und es war still, vollkommen still. Sie wusste, sie war nicht allein, es gab noch andere in anderen Zellen. Aber sie hörte nichts außer ihrem eigenen leisen Stöhnen und ab und zu fallenden Wassertropfen.

Wo war Circea? Hatte sie es geschafft oder verdurstete sie nebenan, wurde vielleicht geschlagen, geschlagen, tot geschlagen? Circea, meine Schwester, meine Freundin, wo bist du? Ich werde dich nicht mehr sehen, ich werde …

Kapitel 1

Beate Lehndorf sah aus dem Fenster und fror. Die Heizung in ihrem neuen Büro funktionierte klaglos. Aber der Blick ging nicht mehr auf den Fehrbelliner Platz, auf den roten U-Bahnhof und das Parkcafé gegenüber. In ihrem alten Büro saß jetzt Wolfgang Menzel, ihr Kollege, inzwischen befördert und ihr gleichgestellt.

Vor zwei Tagen hatte sie ihren Dienst wieder aufgenommen, zwar im alten Team, der Mordkommission 115, aber nicht mehr als alleinige Leiterin.

„Sie müssen verstehen, Frau Lehndorf“, hatte Kampnagel gesagt, ihr Vorgesetzter im LKA 1, „aber mir blieb nichts anderes übrig, als den Kollegen Menzel zum Hauptkommissar zu ernennen und ihm die Leitung der Mordkommission zu übergeben. Sie müssen sich jetzt die Kompetenzen teilen und miteinander klarkommen. Aber Sie waren ja ein bewährtes Team, nicht wahr?“ Dass Wolfgang Menzel gleich ihr Büro übernommen hatte, wollte Kampnagel nicht kommentieren.

Sie stand noch am Fenster und sah den Schneeflocken zu. Es hatte lange gedauert, bis der Winter in Berlin eingezogen war. Aber nun, im Januar, lag eine Schneedecke auf den Straßen und Gärten und dämpfte die Geräusche. Berlin war stiller geworden.

Kampnagel hatte trotz der langen Zeit, die Beate krank geschrieben war, trotz des Aufenthalts in der Reha-Klinik Zweifel geäußert, ob sie wieder voll einsatzfähig sei. Ihre ärztlichen Atteste bescheinigten dies zwar, aber er hatte darauf bestanden, dass sie noch Termine bei einer Polizeipsychologin machte. Sie goss noch einen kräftigen Schluck Grappa in ihre Kaffeetasse. Das würde sie in den Griff kriegen müssen, vor der Psychologin und vor ihrem Team. Als sie nach der Reha wieder zu Hause war, alleine in der Wohnung, alleine in ihrem Leben, hatte sie angefangen sich mit Grappa zu trösten. Sie wollte aber nicht leere Flaschen verstecken und morgens Pfefferminzdrops lutschen. Sie wollte die alte Beate wieder entdecken.

Bei ihrem letzten Fall wollte ein mehrfacher Mörder sich mit ihr in einem Haus verbrennen. Die schweren Verletzungen hatten sie ein halbes Jahr gekostet. Nun waren wenigstens im Gesicht keine Spuren mehr zu erkennen, an den Beinen aber waren Narben von den Transplantationen geblieben.

Nicht alle Mitglieder ihres Teams waren erfreut über ihre Rückkehr. Menzel und die Sekretärin Isolde, genannt Leni, waren mehr als je ein Herz und eine Seele, weil endlich ein Mann an der Spitze stand. Aber Stefan Wondraschek, der junge Kommissar, hatte gestrahlt und sie herzlich begrüßt. Außerdem gab es noch eine Kommissaranwärterin, die der Gruppe zugeteilt worden war. Kira Worms war 28 Jahre alt, groß, schlank und mit langen, blonden Haaren gesegnet, die sie im Dienst meist zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Menzel war von ihr hingerissen und musste sich zusammennehmen, damit er das Einvernehmen mit Leni nicht störte. Die war zwar schon fast sechzig Jahre alt, gleichwohl eifersüchtig. Beate sah mit Genugtuung, dass Kira so viel Selbstbewusstsein hatte, den Avancen eines Mannes im Team nicht zum Opfer zu fallen.

Beate setzte sich an ihren Schreibtisch und griff nach den Akten. Aber es fiel ihr noch schwer, sich zu konzentrieren. Scheck, so wurde Stefan genannt, hatte ihr zugeredet, sich langsam wieder einzufinden. Bei den Lagebesprechungen würde sie die Fälle am besten kennenlernen. Sie dachte zurück an Weihnachten, das sie in Dresden bei ihren Eltern verbracht hatte. Die hatten nach ihrer Verletzung ihren Sohn Benjamin aufgenommen, der bis zum Sommer in Dresden auch zur Schule ging.

Wie immer in Dresden waren sie am Weihnachtstag nachmittags in der Christvesper gewesen, um danach ein bescheidenes Abendbrot zu essen, Würstchen mit Kartoffelsalat. Anschließend wurden noch ausgiebig Weihnachtslieder gesungen, im drei- oder vierstimmigen Satz. Seit Jahren feierte ein Freundespaar der Eltern mit, das kinderlos geblieben war, sodass genügend Stimmen da waren. Benjamin konnte gerade noch die Tenorstimme singen, die fast immer fehlte. Beates Altstimme war sehr willkommen. Sie tauchte in die alten Rituale ein wie bei einer Rückkehr in die Kindheit. Es tat ihr wohl. Benjamin freute sich, sie zu sehen, war aber scheu wie auch ihre Eltern angesichts der Verletzungen. Unausgesprochen hing die Frage in der Luft, ob sie diesen gefährlichen Beruf weiter ausüben wolle.

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