DORINEDa kommt er.
Szene IV
ORGON. CLÉANTE. DORINE.
ORGONAh!, mein Bruder, guten Tag.
CLÉANTEIch wollte gerade gehen – es freut mich, zu sehen, dass Ihr zurück seid. Zu dieser Jahreszeit wird auf dem Land nicht viel in Blüte stehen …
ORGONDorine, mein Schwager, wartet, ich bitte Euch: Gestattet, dass ich Euch, um mich einer Sorge zu entledigen, um ein paar Neuigkeiten ersuche. Hat sich hier in den letzten zwei Tagen alles ordentlich zugetragen? Was tut sich so im Hause? Wie ist es allen ergangen?
DORINEMadame hat vorgestern bis zum Abend Fieber gehabt, begleitet von einem kaum zu ertragenden Kopfschmerz.
ORGONUnd Tartuffe?
DORINETartuffe? Dem geht es blendend. Dick und fett, mit frischem Teint und purpurroten Lippen.
ORGONDer Guteste!
DORINEAm Abend war ihr plötzlich übel, so dass sie beim Essen nichts anrühren konnte, so grausam schmerzte ihr noch immer der Kopf.
ORGONUnd Tartuffe?
DORINEDer aß, für sich allein, vor ihren Augen, und verschlang voller Gottesfurcht zwei Rebhühner und eine halbe haschierte Lammkeule.
ORGONDer Guteste!
DORINEDie Nacht verging, ohne dass sie auch nur ein Auge zutun konnte, Hitzewallungen hinderten sie daran, in den Schlaf zu finden, und bis Tagesanbruch mussten wir an ihrer Seite wachen.
ORGONUnd Tartuffe?
DORINEGetrieben von einer angenehmen Schläfrigkeit ging er in sein Zimmer, kaum dass die Tafel aufgehoben war, und legte sich sofort in sein warmes, weiches Bett, wo er ohne Schwierigkeiten bis zum nächsten Tag schlief.
ORGONDer Guteste!
DORINESchließlich, Dank unseres guten Zuredens, ließ sie sich davon überzeugen, einen Aderlass über sich ergehen zu lassen, woraufhin endlich Erleichterung eintrat.
ORGONUnd Tartuffe?
DORINE Der fasste neuen Mut, wie es sich gehört, und um seine Seele gegen alles Übel zu stärken und das Blut, das Madame verloren hatte, zu ersetzen, trank er zum Frühstück vier große Gläser Wein.
ORGONDer Guteste!
DORINENun sind die beiden wieder wohlauf, und ich will zu Madame eilen, um ihr rasch mitzuteilen, wie sehr Ihr an ihrer Genesung Anteil nehmt.
Szene V
ORGON. CLÉANTE.
CLÉANTEDa lacht sie Euch, mein Bruder, einfach mitten ins Gesicht … Nicht, dass ich Euch vergrätzen will, doch muss ich Euch leider sagen: Sie tut es mit Recht. Hat man denn jemals von einer solchen Einfalt gehört? Ist es wirklich möglich, dass Ihr dem Zauber eines solchen Mannes gänzlich verfallen seid und darüber alles andere vergesst? Dass Ihr, nachdem Ihr ihn aus seiner Misere befreit habt, so weit geht, ihn tatsächlich –
ORGONHaltet ein, mein Schwager – Ihr wisst nicht, über wen Ihr da sprecht.
CLÉANTEIch mag ihn nicht kennen, wie Ihr sagt, und doch: Um zu wissen, um was für einen Menschen es sich handelt –
ORGONMein Bruder, Ihr wäret begeistert, wenn Ihr ihn kennenlerntet, und Eure Begeisterung nähme gar kein Ende. Er ist ein Mann, der – ach!, ein Mann – Ein Mann eben! Wer seinen Ratschlägen folgt, der kommt in den Genuss des allertiefsten Seelenfriedens – für den ist die ganze Welt nur noch ein Misthaufen. Tatsächlich, der Umgang mit ihm macht mich zu einem anderen Menschen; er lehrt mich, mein Herz an nichts mehr zu hängen, er befreit meine Seele von jeder Freundschaft, und müsste ich meinem Bruder, meinen Kindern, der Mutter und meiner Frau beim Sterben zusehen, es würde mich nicht weiter bekümmern.
CLÉANTEDas, mein Bruder, nenne ich menschliche Gefühle!
ORGONWenn Ihr nur gesehen hättet, wie ich seine Bekanntschaft gemacht habe, Ihr brächtet ihm genau dieselbe Freundschaft entgegen wie ich. Jeden Tag kam er mit sanfter Miene in die Kirche und fiel gleich mir gegenüber auf die Knie. Die Blicke der gesamten Gemeinde zog er auf sich, so inbrünstig sandte er seine Gebete gen Himmel; er stieß Seufzer aus, ein großes Stöhnen, und küsste währenddessen immer wieder demütig den Boden. Und sobald ich mich erhob, um die Kirche zu verlassen, da überholte er mich rasch, um mir an der Tür das Weihwasser zu reichen! Einem Hinweis seines Gehilfen folgend, welcher ihm in allem – seinem Verhalten wie auch seiner Bedürftigkeit – nacheiferte, machte ich ihm Geschenke; doch er, bescheiden wie er war, bestand stets darauf, mir einen Teil zurückzugeben! „Das ist zu viel“, sagte er, „Die Hälfte muss reichen, denn ich verdiene Euer Mitleid nicht …“ Und wenn ich mich weigerte, die Spende zurückzunehmen, begann er vor meinen Augen, sie unter den Armen aufzuteilen. Schließlich nahm ich ihn, der Himmel sei gepriesen, bei mir auf, und seitdem scheint mir hier alles zu wachsen und gedeihen. Ich sehe täglich, wie er sich aller Dinge annimmt; selbst für meine Frau, und das gereicht mir besonders zur Ehre, interessiert er sich ungemein: Sobald ihr jemand schöne Augen macht, lässt er es mich wissen und zeigt sich dabei zehnmal so eifersüchtig wie ich selbst. Doch werdet Ihr kaum glauben, wie weit sein Eifer reicht: Die kleinste Kleinigkeit ist ihm eine Beichte wert, nichts ist gering genug, ihn nicht aus der Fassung zu bringen – das geht sogar so weit, dass er sich neulich selbst anklagte, beim Beten einen Floh gefangen und vor Wut getötet zu haben …
CLÉANTETeufel auch! Ich glaube wirklich, Bruder, Ihr seid verrückt. Wollt Ihr mich mit solchen Berichten für dumm verkaufen? Was glaubt Ihr denn, was dieses ganze Gefasel –
ORGONMein Bruder, Eure Rede riecht verdammt nach Freidenkerei – mir scheint wirklich, Eure Seele ist ganz davon ganz besessen, und wie ich es Euch schon zigmal vorausgesagt habe: Ihr halst Euch damit nur Ärger auf.
CLÉANTELeute wir Ihr sprecht doch immer gleich: Ein jeder soll so blind sein wie Ihr selbst! Kaum hat einer gute Augen, so wird er schon als Freidenker beschimpft, und wer nicht gleich vor wilder Spiegelfechterei in die Knie geht, dem mangelt es prompt an Glauben und Ehrfurcht vor den heiligen Dingen! Ehrlich, Euer Reden macht mir keine Angst: Ich weiß, was ich sage, und der Himmel kennt mein Herz – wir lassen uns von Euch Umstandskrämern nicht zu Sklaven machen. Denn genau so, wie es Schein-Helden gibt, so gibt es auch Schein-Heilige, und so, wie man beobachten kann, dass die wahren Helden selten die wären, die, wohin auch immer die Ehre sie verschlagen mag, viel Lärm verbreiten, so sind es auch nicht die wahren Heiligen, jene, deren Spuren man nur mühsam verfolgen kann, die viel Aufhebens um sich machen. Ja, was! Wollt Ihr etwa keinen Unterschied machen zwischen Heuchelei und wahrer Hingabe? Ihr wollt sie über einen Kamm scheren und der Maske wie dem Antlitz die gleiche Ehre erweisen, die Behauptung mit der Aufrichtigkeit gleichsetzen, Schein und Sein miteinander verwechseln, das Gespenst gleich viel achten wie die lebende Person und Falschgeld für bare Münze nehmen? Was sind die Menschen nicht sonderbar mitunter! Selten sieht man sie sich natürlich verhalten, die Grenzen der Vernunft sind ihnen zu eng, pausenlos drängen sie darüber hinaus; das Edelste noch verhöhnen sie, indem sie es übersteigern und allzu stark in den Vordergrund stellen! Dies nur mal nebenbei, mein Schwager.
ORGONNun, Ihr seid gewiss ein ausnehmend kluger Kopf; die Weisheit der großen weiten Welt scheint es sich dort oben bei Euch gemütlich gemacht zu haben, Ihr seid der einzig Weise und Erleuchtete, ein Orakel, der Cato unseres Jahrhunderts – neben Euch sind alle Menschen die reinsten Narren.
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