Ich beobachtete den Koffer noch einen Moment argwöhnisch, um sicher zu gehen, dass er nun keine Gegenwehr mehr leisten würde und widmete mich wieder meinem wohl verdienten Bier. Ich blickte auf die Uhr. Es war kurz nach halb fünf und ich hatte noch Zeit bis achtzehn Uhr. Dann würde Carsten mich abholen.
Bereits vor zwei Jahren waren wir zusammen im Urlaub, damals teilten wir uns ein Doppelzimmer. Dieses Jahr waren wir jedoch beide der Ansicht, dass es besser wäre, getrennte Zimmer zu nehmen. So konnten wir jederzeit etwas zusammen unternehmen, dennoch war es möglich sich auch mal zurückzuziehen. Carsten tat dies im letzten Urlaub sehr gerne und sehr oft, allerdings nicht alleine, sondern mit diversen Urlaubsflirts. Woraufhin ich mich dann auch oft zurückzog, hauptsächlich an die Hotelbar oder den Strand.
Carsten liebte die Frauen und die Frauen liebten ihn. Während sich bei mir die Anschaffung einer Fünfer-Kondompackung als ein äußerst optimistisches Unterfangen, im Hinblick auf die zehntägige Mallorca-Reise darstellte, konnte Carsten diesbezüglich sicherlich einen Mengenrabatt in der Drogerie seines Vertrauens aushandeln. Wahrscheinlich besaß er sogar einen automatischen Aboservice bei einem Onlinehändler für die Verhüterli, die für ihn ein ganz alltäglicher Gebrauchsgegenstand waren.
Es war genau achtzehn Uhr vierzehn als Carsten mit seinem Audi in die Straße einbog. Ich stand bereits nervös vor der Haustüre und blickte immer wieder hektisch auf die Uhr.
„Hey Heiko!“, rief er mir bereits beim Vorbeifahren aus dem Auto entgegen, als er wendete.
„Hallo Carsten!“
Beim Aussteigen blieb sein Blick sofort auf meinen Koffer hängen, der mittlerweile zusätzlich noch mit einem regenbogenfarbigen Kofferband fixiert war, da ich den Verschlüssen alleine nicht so recht traute.
„Was ist das denn?“, fragte er ungläubig.
„Mein Koffer“, entgegnete ich ihm mit entwaffnender Ehrlichkeit.
„Sieht aus wie ein übergroßes Schminkköfferchen.“
Ich ignorierte diese Feststellung, die lediglich seine persönliche Meinung darstellte und hievte das Monstrum in den Kofferraum seines Wagens. Mit einem Geräusch, das auch von einem auf die Erde prallenden Meteoriten hätte stammen können, sank der Koffer in die Tiefen des Gepäckraums. Der Audi machte dabei Geräusche, die darauf hindeuteten, dass die Stoßdämpfer auch schon mal bessere Zeiten erlebt hatten. Carsten, der dieses Schauspiel mit sorgenvoller Mine verfolgte, ging zum Kofferraum, hob den Koffer leicht an, beziehungsweise versuchte es.
„Was hast du denn da alles dabei?“
„Das Allernötigste“, erwiderte ich und dachte noch einmal wehmütig an all die Sachen, die ich zu Hause lassen musste.
Auf dem Flughafen hoben wir den Koffer dann zu zweit aus dem Auto und ich empfahl Carsten, beim nächsten Autokauf auch die Höhe der Ladekante mit in die Kaufentscheidung einfließen zu lassen.
„Was wiegt denn dieses Ungeheuer?“
„Keine Ahnung.“
„Dir ist schon klar, dass du nur zwanzig Kilo frei hast? Für die restlichen Kilos musst du extra löhnen.“
Die Waage beim Einchecken zeigte zweiunddreißig Kilo an und die freundliche Dame am Schalter zauberte ein rotes Schildchen unter ihrem Tisch hervor, auf dem in großen Lettern das Wort Heavy stand, welches sie nun sorgfältig am Griff meines Gepäckstücks befestigte. Nachdem der Koffer von Carsten nur vierzehn Kilo wog, drückte sie beide Augen zu und ich musste nicht mehr bezahlen. Sicherlich hatte auch der kleine Flirt von ihr mit Carsten einen nicht ganz unerheblichen Anteil daran, dass es so lief, wie es lief.
„Du schuldest mir was“, sagte er als wir in Richtung Personenkontrolle gingen.
Nachdem wir dort circa zehn Minuten in der Schlange standen, wurden unsere Reiseunterlagen von einem Mann kontrolliert, der uns musternd ansah.
„Aha, einmal Malle und zurück“, gab er mit einem leicht abwertenden Unterton von sich, so als ob er uns mitteilen wollte, dass ihm gleich klar war, dass unser Reiseziel nicht die Nobelinsel St. Barth in der Karibik war.
Im Anschluss mussten wir uns einer Leibesvisitation unterziehen, die es in sich hatte. Für eine solch gründliche Untersuchung hätte man bei jedem Kassenarzt private Zusatzleistungen in Anspruch nehmen müssen. Nachdem auch meine Handgepäckstasche die Kontrolle überstand, befanden wir uns im Wartebereich des Flughafens. Von dort aus konnten wir bereits den Flieger sehen, der uns gleich Richtung Mallorca bringen sollte. An der Tür zu dem Verbindungsarm, der den direkten Zugang zum Flugzeug ermöglichte, stand bereits eine lange Schlange von Menschen, obwohl das Boarding laut Anzeigetafel erst in gut zehn Minuten starten sollte. Wir gesellten uns zu den Leuten, die sich einen Sitzplatz sicherten, um auf die immer länger werdende Schlange zu blicken und stellten vergnügt fest, wie die Ungeduld der stehend Wartenden immer größer wurde.
Als eine der letzten bestiegen wir das Flugzeug und begaben uns in Richtung Sitzreihe siebzehn, in der sich unsere Plätze befanden. Am Fenster saß bereits eine jüngere Frau, die mir schon vorher in der Schlange aufgefallen war. Sie machte einen sehr nervösen Eindruck und sah mich fast panisch an.
„Hallo!“, begrüßte ich sie kurz und nahm meinen Platz in der Mitte ein, während sich Carsten noch angeregt mit einer blonden Stewardess unterhielt, die absolut seinem Beuteschema entsprach. Auch meine Sitznachbarin brachte ein kurzes „Hallo“ hervor, klang dabei aber nicht sehr entspannt. Ich ließ mich in den Sitz plumpsen, stieß dabei mit meinem Knie am Vordersitz an und rutschte nach hinten, um den sehr eng bemessenen Platz dieses Touristenbombers optimal zu nutzen. Anschließend schnallte ich mich an. In diesem Moment schnappte meine Sitznachbarin mit einem beherzten Griff nach meinem linken Arm und umschloss ihn wie ein Krake. Ich sah sie an, blickte auf meinen linken Arm und richtete meine Aufmerksamkeit dann erneut auf sie, in der Hoffnung eine Erklärung für ihr Verhalten zu bekommen. Ihr Blick war allerdings starr nach vorne gerichtet, zudem konnte ich eine Schweißperle auf ihrer Stirn erkennen.
„Ich glaube Sie haben da gerade die Lehne mit meinem Arm verwechselt.“
„Ich habe Flugangst!“, presste sie kurz und knapp zwischen ihren Lippen hervor.
„Das ist natürlich nicht so schön, es ist aber trotzdem mein Arm.“
„Bitte lassen Sie mich ihren Arm halten, das beruhigt mich. Ansonsten könnte es sein, dass ich in Panik ausbreche.“
Na toll , dachte ich.
„Vielleicht könnten Sie ihren Griff dann zumindest etwas lockern.“
Sie lächelte mich mit einem gequälten Gesichtsausdruck an, lockerte den Griff minimal und bedankte sich, um gleichzeitig ihren Blick wieder starr nach vorne zu richten. Carsten, der seinen kurzen Flirt mit der Stewardess, zumindest für eine Zeit lang unterbrechen musste, zwängte sich nun auch auf seinen Platz und nahm natürlich sofort wahr, wie sich meine Sitznachbarin an mir festkrallte.
Beim Hinsetzen flüsterte er mir zu: „Heiko, du alter Schwerenöter, da lässt man dich einmal aus den Augen und da lachst du dir gleich eine Frau an. Scheint aber ziemlich anhänglich zu sein.“
Ebenfalls im Flüsterton, klärte ich ihn über die Situation auf und wusste sogleich, dass es ein Fehler war, ihm von der Flugangst der Frau zu erzählen. Er schielte an mir vorbei und nahm sie ins Visier, um mir dann wieder zuzuflüstern: „Was macht die denn mit deinem Arm wenn wir erstmal abheben? Panik kann ungeahnte Kräfte freisetzen.“
Er sollte Recht behalten, nachdem das Flugzeug die Rollbahn verließ und sich in die Luft bewegte, spürte ich welche Kraft Panik freisetzen konnte. Ich war froh, dass wir nicht in einem Flieger nach Australien saßen.
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