Adam und Marry werfen sich wissende Blicke zu. Anne regt sich immer schnell auf, lässt sich aber meistens genauso schnell wieder beruhigen und minimiert die Strafe meist auf Geschirrspüler ein- oder ausräumen. Fröhlich geht das familiäre Treiben weiter. Bis fünf Minuten später Anne ärgerlich aufsteht und meint:“ So, das reicht, ich rufe jetzt Sandra an, sie soll sie sofort nachhause schicken.“ Sie geht aus dem Zimmer, um zu telefonieren. Sie ist ungewohnt nervös. Ihr Mutterinstinkt flüstert ihr zu, dass da etwas nicht stimmt. Doch sie schiebt ihn beiseite. Sie will auf Sarah wütend sein und sie schimpfen. Daran zu denken ist viel einfacher, ist um so vieles weniger schmerzhaft, als der Gedanke daran, dass etwas passiert sein könnte.
Es klingelt nur zweimal am anderen Ende, da hebt auch schon Cindys Mutter Sandra ab.
„Hallo Anne, hat Sarah wieder etwas vergessen?“ , erklingt die fröhliche Stimme von Sandra
„Hallo Sandra, nein, ich wollte dich gerade bitten, sie nachhause zu schicken. Sie ist schon 20 Minuten zu spät und wir wollen endlich essen,“ meint Anne mit einer leicht genervten Stimme.
Dann sagt Sandra diesen Satz, der alles Verdrängen und ein Beiseiteschieben dieses einen Mutterinstinktes, dieser kleinen Stimme, die flüstert, dass da etwas nicht stimmt, nicht mehr möglich macht.
„Sie ist bereits vor fast einer Stunde weggegangen.“
Anne stockt der Atem. Ihr Herz wird so schnell von der eisernen Faust der Angst umklammert, dass sie es nicht mehr schafft ordentlich Luft zu holen. „Sie ist…sie ist…was?“, stottert sie, nicht fähig, einen vollständigen Satz zu sprechen.
„Sie ist schon um halb sieben losgegangen. Sie wollte unbedingt noch ihre Tante treffen, um ihr irgendetwas zu erzählen. Ist sie denn noch nicht bei euch?“
„Nein, sie ist….nein...“
„Bist du dir ganz sicher? Hat sie sich auch nicht heimlich in ihr Zimmer geschlichen?“, fragt Sandra.
„Ich merke doch, ob meine Tochter zuhause ist!“, ruft Anne aufgebracht.
„Natürlich. Hör mal, atme erst mal tief durch. Das lässt sich bestimmt leicht aufklären. Ich frag Cindy, ob sie vielleicht noch irgendwo anders hin wollte. Ich ruf dich dann zurück.“
Anne legt ihr Handy zur Seite. Kurz starrt sie darauf, dann dreht sie sich mit einem Ruck um und läuft nach oben. Vielleicht ist sie wirklich in ihrem Zimmer. Hat sich heimlich hineingeschlichen, während Anne im Garten lag. Es wäre eine so leichte, so wunderbare Erklärung für alles. Es würde die Angst die sich langsam in Annes Herz schleicht, wieder auslöschen. Doch das Zimmer ist leer. Und die Angst, die so leise schleicht, beginnt in immer schnellerem Tempo zu wachsen. Nach einem kurzen Blick rennt Anne wieder nach unten zu den Anderen. Sie sitzen alle am Esstisch. Sie sind noch so frei, so fröhlich. Sie haben noch keine Ahnung, von der Angst, die sie gleich empfinden werden. Und wie groß diese Angst noch werden würde, liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft und auch noch in weiter Ferne von Annes Vorstellung. Es ist eine eiserne Faust die sie bereits jetzt umfangen hält, aber sie hat keine Ahnung, wie fest diese Faust zupacken wird. Sie hat noch keine Vorstellung davon, wie weit eine Angst wachsen kann. Anne will Adam packen, ihn anschreien, mit ihm losstürmen, um ihre Tochter zu suchen. Doch Debbie ist auch im Raum. Vor ihr kann sie die Angst nicht zeigen. Ein Kind kann diese Angst nicht ertragen und sie würde sie von ihr fernhalten. Ein mutiger Vorsatz einer liebenden Mutter, der sich nicht erfüllen lässt. Niemand kann das Grauen namens Angst fernhalten, wenn es alles verseucht und alles mit ihren schwarzen Klauen packt. Nicht einmal eine Mutter vor ihrem Kind.
Sie gibt ihrem Mann ein Zeichen, dass er ihr folgen soll. Adam blickt etwas verwirrt, steht jedoch auf und folgt ihr. Als er den Raum verlässt, hört er noch Debbie ihrer Tante zuflüstern: „ Oh je, dass sieht aber mächtig nach Ärger aus.“
Adam überlegt kurz, was Sarah wohl angestellt haben muss, wenn Anne ihn aus dem Zimmer holt, um darüber zu sprechen. Doch dann blickt er in Annes Augen, die ihn voller Angst ansehen. Sie hat eine ganz intensive blaue Augenfarbe, die immer voller Leben funkeln, ihn immer freudig anstrahlen. Heute jedoch sind sie, als hätte sie jemand erstarren lassen. Sie funkeln nicht, sie glänzen nicht, sie sind einfach nur voller Angst auf ihn gerichtet.
„Anne?“, flüstert er fragend.
„Sie ist nicht dort, “, antwortet sie leise. Hätte Adam nicht gesehen, dass sie ihren Mund bewegt, würde er denken, dass jemand anders gesprochen hat. Diese verzerrte Stimme konnte unmöglich von seiner Frau stammen.
„Wie meinst du da? Sie ist nicht dort?“ Adam will eine Antwort, die ihm sagt, dass seine Tochter gleich heimkommt. Die ihm sagt, dass sie irgendetwas angestellt hat. Er will, dass seine Frau wütend ist. Er will, dass sie schimpft, und ihn nicht mit diesen erstarrten Augen anblickt und mit dieser angstverzerrten Stimme spricht.
„Bei Cindy, sie ist nicht dort.“
„Dann ist sie auf dem Weg?“ Eine einfache Frage, die einen Ausweg bietet. Eine einfache Erklärung, die diese groteske Situation, in der sie sich befinden, wieder auflösen wird. Die Adam daran hindert, an etwas Schlimmes zu denken. Doch Anne macht diesen Hoffnungsschimmer zunichte.
„Sie ist schon seit fast einer Stunde nicht mehr bei Cindy. Adam, wir müssen sie suchen! Was, wenn sie hingefallen ist? Vielleicht hat sie sich verletzt.“ Anne umklammert verzweifelt Adams Arm. Sie spricht mit leiser Stimme, und doch ist es als würde sie schreien. Jedes einzelne Wort schneidet sich in Adams Herz. Die Tür hinter ihnen wird geöffnet und Marry betritt den Raum.
„Sagt mal, was ist eigentlich los?“
Doch bevor ihr jemand antworten kann, zerreißt das Schrillen von Annes Handy die kurze Stille. Als Anne rangeht erklingt sofort Sandras aufgeregte Stimme:“ Cindy sagt, dass Sarah nachhause wollte. Sie wollte unbedingt mit Marry etwas wegen einem Jungen besprechen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass sie irgendwo anders hin ist. Wir haben überlegt, ob sie vielleicht einen Umweg über den Spielplatz gemacht hat, und dort jemanden getroffen hat. Sam ist gleich los gegangen, um nachzusehen. Ich lasse Cindy bei ihrer Oma, und gehe auch gleich los, auf dem direkten Weg zu euch. Wir treffen uns dann bei euch.“
Anne schafft es nicht zu antworten. Sie öffnet den Mund, aber es kommen keine Laute heraus. Die eiserne Faust um ihr Herz wird immer fester.
„Anne? Bist du noch dran?“
Anne räuspert sich und endlich kommt ein leises, beinahe gehauchtes „Ja“ aus ihrem Mund.
„Hör mir gut zu. Versuch ruhig zu bleibe. Ich bin mir ganz sicher, dass sich das alles aufklären wird. Wir werden sie ganz bestimmt finden. Du wirst kurz mit ihr schimpfen und morgen schon lachen wir darüber.“
Schimpfen? Sie würde ihre Tochter doch nicht schimpfen! Sie würde sie einfach nur festhalten und nie wieder loslassen.
Anne stammelt noch ein paar Worte, dann nimmt ihr Adam das Handy aus der Hand und lässt sich von Sandra noch mal alles sagen. Marry, die inzwischen von Adam über die Situation aufgeklärt wurde, legt ihren Arm um Anne. Adam legt das Handy zur Seite und dreht sich wieder zu ihrnen um Mit leiser, zitternder Stimme sagt er: „Sam und Sandra suchen von ihrer Seite, ich gehe von hier los und wir treffen uns in der Mitte. Du bleibst am besten hier und wartest, ob sie zurückkommt.“
„Hier bleiben? Ich kann doch nicht hierbleiben! Mein Kind braucht mich!“, ruft Anne aufgebracht und schüttelt Marrys Hand von ihren Schultern.
„Jemand muss aber hier sein, falls sie zurückkommt. Wenn wir draußen suchen und sie kommt nachhause und keiner ist da. Außerdem können wir Debbie nicht alleine hierlassen.“
„Ich bin ja da,“ unterbricht Marry die beiden, die anscheinend vergessen haben, dass auch sie hier ist.“ Jetzt geht schon und sucht Sarah.“
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