„Wir haben drei vermisste Mädchen, alle blond. Alle Entführungen weisen dasselbe Muster. Die Mädchen wurden immer am Heimweg entführt und jedes Mal wurde ein Schuh zurückgelassen. Außer den Schuhen gibt es bisher keinerlei Hinweise. Keine Erpressung, keine Drohbriefe, keine Lösegeld Forderung und auch keine Leichen.“
„Danke Sanders. Ohne Bestätigung des Gegenteiles, gehen wir davon, aus, dass die Mädchen leben. Umso dringender ist es, dass wir sie finden. Abreise in 30 Minuten.“
Ohne weitere Erklärungen steht Shane auf und verlässt den Raum. Die Lippen fest aufeinander gepresst steuert er sein Büro an. Es sind Kinder. Wieder. Fälle mit Kindern sind die schlimmste. Jeder ihrer Fälle ist schlimm, jeder grausam, aber wenn Kinder die Opfer sind, sind es die Schlimmsten. Shane hofft, das ihm niemand etwas angesehen hat. Aber er ist bei den Fotos innerlich zusammengezuckt. Vielleicht, weil er jugendliche Mädchen erwartet hatte, vielleicht aber auch, weil er noch nicht so weit ist. Vielleicht ist es aber auch wegen seinem Bauchgefühl, diese ungute Vorahnung, dass er erneut an seine Grenzen stoßen wird.
Wenn eine Frage im Raum steht und diese heißt, was ist wirklich wichtig? Wie wirst du sie beantworten? Und wie schnell wirst du diese Antwort finden? Wird die Antwort lauten Gesundheit, Liebe, Glück oder gar Geld? Manche wissen die Antwort schneller, manche langsamer, und die meisten zögern. Sie müssen erst nachdenken. Es ist schon eine komische Eigenschaft des Menschen, dass er die Frage mit absoluter Sicherheit und mit großer Geschwindigkeit so oft erst dann beantworten kann, wenn er im Begriff ist, das Wichtigste zu verlieren.
Anne stellt sich an jedem heißen Sommertag diese Frage. Ist es ein Zufall oder doch eine innere Vorahnung, dass ausgerechtet an diesem Sommertag diese Frage durch ihren Kopf huscht, beinahe so, als würde sie jemand anderer stellen. Sie hatte sich noch nie irgendwelche Gedanken über ihr Leben gemacht. Noch nie gedacht, dass sie Glück hätte. Bis jetzt war einfach alles selbstverständlich. Alles lief genauso ab, wie es sich gehörte. Schule, Universität, Hochzeit, Kinder. Sie hatte eigentlich keine Kinder in ihrem Leben geplant, aber es gehörte sich nun mal, also ließ sie sich von ihrem Mann zu zwei überreden. Obwohl ihre beiden Mädchen nicht zu ihrer ursprünglichen Lebensplanung gehörten, liebt sie sie heiß und innig. Sie spricht zwar nie darüber, aber tief in ihrem Inneren ist sie ihrem Mann dankbar für seinen Kinderwunsch. Trotzdem schwanken an diesem Tag, als diese eine Frage leise durch ihren Kopf huscht, ihre Gedanken als erstes in Richtung Beruf. Was sollte sie bloß ohne ihre Arbeit anfangen? Den ganzen Tag Hausfrau sein? Das wäre ganz bestimmt nichts für sie.
Man könnte es Ironie des Schicksals nennen, dass sie sich zwar vorstellen kann, ihre Arbeit zu verlieren und sie der Gedanke so fesselt, dass sie nicht ein einziges Mal daran denkt, dass ihr weitaus Schlimmeres widerfahren könnte. Aber an das Schlimmste will niemand denken, das Schlimmste sind immer nur Dinge, die Anderen passieren, und so schickt sie ihre Tochter Sarah zu ihrer Freundin. Sie ruft ihr noch einmal nach, dass sie um 19 Uhr wieder zuhause sein muss und schließt dann aufatmend die Tür. Debbie wurde bereits von ihrer Patentante abgeholt, ihr Mann ist am frühen Morgen zur Arbeit gefahren, und sie, Anne, würde nun einen wunderbaren freien Tag genießen. Wieder schleicht sich die leise Frage ein, was wirklich wichtig ist, doch Anne schiebt den Gedanken beiseite. Wer will sich schon mit philosophischem Kram beschäftigen, wenn man diesen wundervollen Tag genießen kann. Vielleicht hätte sie sich damit beschäftigt, wenn sie gewusst hätte, dass das Wichtigste gerade durch diese Tür gegangen ist, und sie sich schon bald fragen muss, ob es wieder zurückkehren wird. Doch Anne ahnt nichts Schlimmes. Da ist keine Vorahnung, kein Instinkt. Sie will sich einfach nur im Garten entspannen, sich von der Sonne bescheinen lassen, lesen und wenn es ihr zu heiß wird, in den Pool hüpfen. In diesem Moment zählt einfach nur das, weil Wichtiges beiseitegeschoben wird. Wer will schon an Schlimmes denken, wenn der Tag so schön ist? Alles Schlechte ist weit fern, und doch ist es, ohne dass es bemerkt wurde, schon so nah. So zieht ihr freier Nachmittag an Anne vorbei, ohne dass sie sich noch einmal Gedanken über irgendetwas macht, das wichtig sein soll. Als sie um 18 Uhr auf die Uhr blickt, gönnt sie sich noch eine kurze Abkühlung im Pool, bevor sie sich ihre nassen Badesachen auszieht und in trockene Kleidung schlüpft. Kaum hat sie den Gürtel ihres gelben Sommerkleides geschlossen, kommt ihr Mann zur Tür herein. Er begrüßt sie mit einem Kuss auf den Mund und fragt:“ Wie war dein freier Tag?“
„ Nicht besonders aufregend. Ich hatte endlich mal wieder Zeit für ein gutes Buch. Du glaubst ja gar nicht, wie ruhig es hier ist, wenn die Kinder nicht da sind. Du kannst die Ruhe noch kurz genießen, sie kommen beide gegen sieben nachhause.“
Neckisch legt Adam die Arme um seine Frau und flüstert:“ Ich wüsste etwas, womit wir die Ruhe stören könnten.“
Doch Anne stößt ihn zur Seite und meint abweisend:“ Nicht jetzt Adam, ich muss noch kochen. Außerdem wäre meine Schwester kaum erfreut, wenn sie hereinkommt, und wir sind hier nackt.“
„Das würde sie schon überleben.“
„Und deine Tochter?“
„Also gut, du hast gewonnen, wir verschieben das auf später.“
Lächelnd küsst Anne ihn auf den Mund und lockert seine Krawatte. „Dann freu dich auf später. Jetzt kannst du ja zur Abkühlung noch in den Pool springen. Ich mach mich mal an das Abendessen. Ich habe Sarah gesagt, wir essen um sieben. Ich hoffe wirklich, sie kommt nicht wieder zu spät.“
Kaum fünf Minuten später stürmt Debbie gefolgt von ihrer Tante herein. Anne nimmt die beiden in Empfang und wirft Adam, der gerade mit nasser Badehose durch die Terrassentür tritt, einen „Ich-habs-dir-doch-gesagt-Blick“ zu. Marry entgeht der Blick keineswegs und sie flüstert ihrer Schwester leise zu:“ Bitte sag mir, dass hier nichts Schweinisches gelaufen ist. Und falls doch, sag mir wo, damit ich mich auf keinen Fall dorthin setze.“
„Er ist erst seit fünf Minuten zuhause, also keine Sorge. Adam, trockne dich doch ab, du tropfst hier alles voll! Bleibst du zum Essen, Marry?“
„Kommt darauf an, was es gibt?“
„Immer noch die Vorsichtige? Keine Sorge, keine Tomaten und keinen Kürbis. Also nichts allzu gesundes und den Salat musst du ja nicht essen.“
„Dann würde ich sagen, ich riskier es und bleibe zum Essen.“
Das fröhliche hin und her Geplänkel läuft weiter. Eine ganz normale Familie, die noch nicht ahnt, dass das Grauen schon vor der Tür steht und in nur wenigen Minuten das ganze Haus verseuchen wird. Könnte man die Zeit anhalten, hätte sie jemand gestoppt? Genau in diesem Moment? Obwohl die Familie noch nicht vollständig ist? Obwohl bereits eine Person fehlt, ohne dass es bemerkt wurde?
Ohne auf die Zeit zu achten, wird fertig gekocht, der Tisch gedeckt und sich immer wieder geneckt. Bis Anne aufblickt und es bereits 15 Minuten nach sieben ist. Ärgerlich schüttelt sie den Kopf und murmelt:“ Also, das wird wohl nichts mit dem Badeausflug nächste Woche.“
Adam will sie beruhigen:“ Ach, sei doch nicht so streng, bestimmt hat sie nur die Zeit übersehen.“
„Ja, und beim nächsten Mal kommt sie um acht Uhr und dann es ist nur eine Stunde, und in ihrer Jugend kommt sie nur ein bisschen betrunken nachhause und hat die Drogen nur ein bisschen probiert. Und im besten Fall wird sie noch ein bisschen schwanger. Nein, es wird Zeit, dass sie lernt, sich an die Regeln zu halten. Sieh mich nicht so an, Adam, du weißt, dass ich Recht habe. Cindy wohnt nur fünf Minuten entfernt, da kann man erwarten, dass sie pünktlich ist.“
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