Viel zu schnell rann die kostbare Zeit durch ihre Finger. Obwohl Sonntag war, mussten viele Arbeiten trotzdem erledigt werden. Wenn sie nicht gerade ihrer Mutter zur Hand gingen, kuschelten sie mit Ilse. Grete warf das fröhlich lachende Kind in die Luft, um es schließlich wieder aufzufangen und mit Küssen zu bedecken. Kitzelte sie, um sie zum Lachen zu bringen. Zog den weißen Kittel an und fütterte ihre Tochter. Legte sich auf das Bett und ihren Liebling auf ihren Bauch. Es sollten für lange Zeit die letzten, unbeschwerten Stunden mit ihrem Baby sein. Das wusste sie.
Den Mittagsschlaf nutzte sie, um mit Ida einen langen Spaziergang zu machen. Ida hakte sich bei ihrer 9 Minuten älteren Schwester unter und erzählte ihr, wie gerne sie sich öfter mit ihr treffen würde. »Ich vermisse dich so sehr«, gestand Ida ihr mit zerbrechlicher Stimme. Grete hielt ihren Arm noch fester. »Mir geht es genauso. Aber irgendwann werden wir wieder näher zusammen sein. Spätestens wenn der Krieg vorbei ist.«
Nachdem sie eine Weile schweigend weitergegangen waren, blieb Ida stehen und sah ihr in die Augen. »Ich habe Angst. Alle erzählen immer vom baldigen, endgültigen Sieg über die Russen, aber hinter vorgehaltener Hand hört man so viele Kommentare, die mir eine solche Angst einjagen. Denkst du wirklich, dass der Krieg bald vorbei ist?« Wenn Grete ehrlich zu sich selbst war, hatte auch ihre Hoffnung einige beträchtliche Kratzer erlitten. Aber sie musste Ida Mut machen. »Ludwig schreibt auch von wichtigen Siegen an der Front und hofft, bald zurückkommen zu können. Aber egal, was kommt, wir werden es zusammen durchstehen. Glaub mir!«
Sie konnte nicht einschätzen, ob Ida ihren Worten tatsächlich glaubte, doch sie sah ihrer Schwester fest in die Augen und lächelte ihr aufmunternd zu. »Wir werden uns jede Woche schreiben und auf dem Laufenden halten. Und irgendwann werden wir wieder zusammen sein. Alle zusammen. Versprochen.«
Auch wenn es beiden schwer fiel, sich schließlich auf den Weg zum letzten Zug zu machen, verließ Grete den Hof mit einem guten Gefühl. Es war ein wunderbares Zuhause für ihre Tochter und es war die richtige Entscheidung. Nachdem sie die Fahrkarte gekauft hatte, gab sie ihrem Vater den Rest ihres Geldes. Sie selbst brauchte gar nichts, wenn sie wieder in Posen war. Sie kam mit dem zurecht, was ihr in Jakobsens Haus geboten wurde. Und sie würde jeden Pfennig, den sie entbehren konnte, beiseitelegen. »Wenn ihr etwas braucht, schreib mir bitte. Dann schicke ich euch etwas Geld.« Sie ahnte, dass ihr Vater viel zu stolz wäre, ihr Geld anzunehmen. Vielleicht würde sie hin und wieder etwas Geld an Marie schicken. Sie konnte es dann ihrer Mutter geben. Aber zuerst einmal musste sie sich etwas einfallen lassen, wie sie nebenbei zusätzliches Geld verdienen konnte. Sie hatte da schon die ein oder andere Idee.
Die Verabschiedung von ihrem Vater und auf halber Strecke von Ida fiel nicht minder traurig aus, als die Verabschiedung von ihrer Tochter. Grete hatte bewusst die Abfahrzeit so spät gewählt, dass sie bei ihrer Ankunft möglichst niemandem mehr begegnen würde. Sie hoffte, dass Jakobsen bereits schlief, denn ihr lag nichts an irgendwelchen Erzählungen ihres Wochenendes. Oder daran, dass er die Tränen in ihren Augen sah. Sie wollte nicht, dass er in ihre Seele sah. Das machte sie zu verletzlich. Sie wollte nicht verletzbar sein, sie wollte stark sein. Und das war sie.
Ihr Vater fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass seine Tochter mitten in der Nacht den weiten Weg vom Bahnhof bis zum Laden allein zu Fuß gehen musste. Doch es machte ihr nichts aus. Als sie Zuhause ankam, brannte noch ein kleines Licht im Hausflur. Ob Jakobsen es für sie angelassen hatte? So viel Rücksicht würde nicht zu ihm passen. Oder ob er selbst noch nicht schlafen gegangen war und auf sie wartete? Leise schloss sie die Tür auf und erschrak beim Quietschen der dicken Scharniere. Das war ihr bislang gar nicht aufgefallen. Erst jetzt, wo alles um sie herum totenstill war, glich es einem Schrei und sie erschrak.
Regungslos blieb sie in der halb geöffneten Tür stehen. Es war still im Haus. Grete traute sich kaum, die Tür wieder zu schließen, doch ihr blieb keine Wahl. Fest hielt sie die Türklinke in der Hand und mit einem schnellen Ruck schob sie die Tür wieder zu. Wieder verharrte sie einen Augenblick. Dann drückte sie die Türklinke hinab und verschloss die Tür. Immer noch war kein Ton zu hören. Sie beschloss, die Lampe im Flur zu löschen und im Dunkeln den Weg in ihr Zimmer zu suchen. Hoffentlich lag nichts auf der Treppe, über das sie stolpern könnte. Aber die Befürchtung, Jakobsen durch den Lichtschein zu wecken, war größer als die Angst, im Dunkeln in ihr Zimmer zu gehen. Zwei der unzählig erscheinenden Holzstufen knarrten erbarmungslos. Jedes Mal blieb sie stehen und hoffte inständig, dass sie bald ungesehen in ihr Bett fallen konnte. Wenige Minuten später hatte sie es geschafft. Sie verzichtete auf die Abendtoilette und verkroch sich in ihre Kissen, nachdem sie die Zimmertür verschlossen hatte.
***
Als Jakobsen sich ihr das erste Mal unsittlich von hinten näherte, ließ Grete vor Schreck den Porzellanteller aus der Hand fallen und stieß einen hellen Schrei aus. Diese Reaktion löste in ihm einen unvorhergesehenen Schock aus und da gleichzeitig die Klingel des Ladens ertönte, eilte er in sein Geschäft. Zu Gretes Glück kam noch am gleichen Tag seine Frau unverhofft aus dem Urlaub zurück. Ihre frühzeitige Ankunft passte Jakobsen gar nicht in seinen Plan. Darüber hinaus hatte sie Klaus bei Verwandten gelassen, damit dieser seine Ferien und sie selbst eine ungestörte Zeit mit ihrem Gatten verbringen konnte.
Es begann eine ruhelose Zeit für Grete, in der sie immer befürchten musste, dass Jakobsen sein Ziel weiter verfolgte. Sie vermied es möglichst, allein in einem Raum mit ihrem Chef zu sein, was oft sehr schwierig war. Ihre freie Zeit verbrachte sie wenn irgend möglich nicht zu Hause. Sie suchte sich für die Wochenenden, die früher für Ilse reserviert waren, eine Nebentätigkeit. Die Gaststätte in der Nähe des Bahnhofs stellte die hübsche Frau gerne für die Bedienung der Gäste ein. Sie war fleißig und sehr freundlich. Das sicherte ihr zudem ein gutes Trinkgeld. Freiwillig blieb sie bis zum Schluss, half dabei, die Gläser zu spülen und den Boden zu wischen, obwohl es nicht zu ihren Aufgaben gehörte. Sie tat alles, um Jakobsen möglichst nie allein zu begegnen.
Doch nicht immer ließ es sich vermeiden. Obwohl sie immer die stärkere der beiden Zwillinge gewesen war, wünschte sie sich in dieser Zeit, ihre Schwester würde ihr beistehen. Die Begegnungen waren oft eine Gratwanderung. Sie wollte sich nichts von ihrem Chef gefallen lassen, war aber andererseits unbedingt auf diese Stellung angewiesen. Wie sonst sollte sie das Geld, das sie in einer kleinen Schatulle auf dem Kleiderschrank aufbewahrte, verdienen. Die Zeiten waren nicht mehr so rosig. Die Gerüchte, dass die eigenen Männer an der östlichen Front die rote Armee nicht auf Dauer zurückhalten können, verdichteten sich. Niemand würde heute jemanden neu einstellen. Jeder musste sehen, wie er zurechtkam.
Jakobsens Annäherungsversuche wurden eindringlicher, so dass er sich eines Tages nicht mehr zurückhielt, obwohl seine Frau mit Klaus nur für einen Einkauf das Haus verlassen hatte. Unverhofft stand er plötzlich hinter ihr und fasste ihr mit schnellem Griff unter den Rock. Erschrocken versuchte Grete, sich herumzudrehen, doch der kräftige Mann hatte sie mit einer Hand fest im Griff und schob sie gegen den Küchentisch. Mit der anderen Hand schob er den langen Rock nach oben und machte sich schnell an seiner Gürtelschnalle zu schaffen. Grete wehrte sich mit aller Gewalt und schaffte es, eine gusseiserne Pfanne zu greifen. Obwohl diese ihr sonst immer so schwer erschien, schaffte sie es, damit hinter sich zu schlagen. Leider jedoch, ohne ihn zu treffen. Geschickt nahm er ihren Arm und schlug damit auf den Tisch, so dass sie die Pfanne vor Schmerz loslassen musste.
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