»Weißt du noch, wie du und Ida versucht habt, mich reinzulegen, wenn einer von euch etwas angestellt hatte?« Grete musste lachen. »Ich weiß gar nicht, was du meinst«, antwortete sie mit unschuldigem Blick. Ja, sie und Ida waren sich wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten, so dass selbst ihre Eltern sie kaum auseinander halten konnten. Und erst Recht konnte es das Personal auf dem Hof nicht. Wenn eine von ihnen Mist gebaut hatte, so schworen beide, dass sie es gewesen seien. Manchmal wurden sie dann beide bestraft. Das war es ihnen wert. Aber oftmals war es den Erwachsenen einfach zu mühselig und sie ließen die ganze Sache im Sand verlaufen.
»Verrätst du mir heute, wer von euch beiden damals heimlich Papas Geburtstagskuchen angeknabbert hat?« Ihre Mutter sah sie prüfend von der Seite an. »Na, ICH natürlich«, erwiderte Grete lachend. »Ja, dasselbe hat Ida auch gesagt.« Lächelnd schüttelte ihre Mutter den Kopf. »Ich bin froh, dass ihr so zusammen haltet und ich wünsche mir, dass das immer so bleibt. Egal, was in eurem Leben noch passiert. Blut ist dicker als Wasser. Vergiss das nie!« Grete nickte und lehnte ihren Kopf an Mutters Schulter.
Nach einer Weile des Schweigens war Grete es, die das Wort ergriff. Sie berichtete ihrer Mutter von der Idee, in ihre Heimat zurückzukehren und sich eine Existenz aufzubauen. Diese wollte ihrer Tochter Mut machen, teilte ihr aber auch ihre Bedenken mit. Wie schwer es sein würde, etwas Geld anzusparen. Sie versprach jedoch, die Augen offen zu halten für eine Arbeit, die so gut bezahlt wäre, dass sie vorerst auch ohne Ludwig ihren Lebensunterhalt bestreiten könnte. Grete war bereit, hart dafür zu arbeiten, um sich etwas Geld beiseite zu legen. Sie war zuversichtlich und stark genug, dass sie einen Weg finden würde, um ihrer Familie nahe zu sein und selbst für ihre Tochter sorgen zu können.
Nicht einmal eine Stunde war vergangen, da hörten sie Ilse nebenan weinen. Grete nahm sie aus dem Bettchen und unternahm einen weiteren Versuch, ihr die Flasche zu geben. Vergeblich. Schreiend drehte Ilse den Kopf beiseite. Aber sie musste doch inzwischen hungrig sein. Warum nur nahm sie die Flasche nicht an? Kurzerhand packte sie die Kleine in einen Kinderwagen und spazierte eine ganze Stunde durch die Natur an diesem immer noch warmen Sommernachmittag. Einige der Kinder vom Hof waren ihr gefolgt und begleiteten sie. Dieses kleine, rothaarige Kind sorgte schon jetzt für Aufsehen. Tatsächlich ließ sie sich etwas beruhigen und reagierte aufmerksam auf die Spielchen und Fratzen der Kinder.
Zur Abendbrotzeit war sie zurück und Grete machte sich doch langsam Sorgen, da ihr Kind den ganzen Tag noch nichts getrunken hatte. Selbst Tee aus der Flasche lehnte Ilse schreiend ab. Bevor sie sich selbst an den Tisch setzte, machte sie einen erneuten Versuch. Da es mittlerweile frisch geworden war, zog sie eine Strickjacke ihrer Mutter über ihr Sommerkleid und nahm mit Ilse auf einem der Stühle Platz. Nichts. Unter lautem Geschrei verweigerte sie die Flasche. Grete überlegte, ob ihr vielleicht etwas weh tat und wechselte die Position. Wieder nur Schreien, das zwischenzeitlich aufgrund der schwindenden Kräfte in ein herzzerreißendes Wimmern überging.
Verzweifelt versuchte Grete es noch einmal im Schlafzimmer. Möglicherweise brauchte das Kind einfach Ruhe zum Trinken. Nichts. Marie steckte den Kopf zur Tür herein. Sie hatte den weißen Kittel an, da sie noch nicht mit der Küchenarbeit im Herrenhaus fertig war. Die kurze Pause, bis die Herrschaften gegessen hatten, wollte sie nutzen, um ihre Schwester daran zu erinnern, dass sie sich später mit der Flasche Wein im Heuschuppen trafen, um den gemeinsamen Abend zu feiern. Einige der Stallburschen und Arbeiterinnen des Hofes wollten sich zu ihnen gesellen.
Als Marie neben Grete auf dem Bett Platz nahm, hörte Ilse auf, zu weinen. Zur gleichen Zeit stand Elfriede im Türrahmen. »Darf ich die Kleine füttern?« »Besser nicht«, antwortete Grete, die froh war, dass sie wenigstens aufgehört hatte, zu weinen. Die Flasche nahm Ilse trotzdem nicht an. »Sie will nicht trinken und wir wissen nicht, warum.« Marie ging zu ihrer Tochter und Grete bot der Kleinen zur Demonstration abermals die Flasche an. Wieder reagierte Ilse mit Schreien. »Na, ist doch klar.« Elfriedes Worte machten sowohl Grete als auch Marie sprachlos. Amüsiert sah Elfriede von einer zu anderen und wartete, ob sie auf die Lösung kommen würden. Doch angesichts ihrer weinenden Cousine konnte sie es nicht lange aushalten.
»Gib mir deinen Kittel!», forderte sie ihre Mutter auf. Verwirrt blieb diese zuerst regungslos sitzen. Ilses Weinen brachte sie jedoch schnell wieder zurück in die Realität und so folgte sie der erneuten Aufforderung ihrer Tochter. Elfriede nahm den weißen Kittel, streifte sich ihn über und nahm neben Grete auf dem Bett Platz. Dann streckte sie die Arme aus mit der wortlosen Aufforderung an Grete, ihr das Baby in den Arm zu legen. Ratlos tat Grete wie erwartet und augenblicklich versiegten Ilses Tränen. Sie schluchzte noch einmal leise, wie sie es immer tat, wenn sie über einen längeren Zeitraum geweint hatte. Sobald Elfriede das Fläschchen in die Nähe des Mundes brachte, nahm die Kleine begierig den Nuckel auf und saugte kräftig an der Flasche. Das war des Rätsels Lösung: Die Schwestern im Waisenhaus trugen immer weiße Kittel und daran war Ilse gewöhnt. Nach der Aufregung des ganzen Tages und der spürbaren Unruhe ihrer Mutter brauchte die Kleine zumindest dieses Ritual. Zufrieden saß Elfriede mit der Kleinen auf dem Bett und genoss es, dass sie es war, die den Grund für Ilses Weinen herausgefunden hatte und bei der das Baby sich nun geborgen fühlte.
Grete war sehr dankbar für diese überraschende Wendung. Sie hätte nicht in Ruhe zurück nach Posen fahren können, wenn Ilse weiterhin die Flasche verweigerte. Nachdem die Kleine satt und frisch gewickelt war, schlief sie auf der Stelle ein. Inzwischen hatte auch Marie ihre Arbeit beendet. Sie goß ihren Eltern einen Schluck des Weins in die einfachen Wassergläser und stellte sie auf den Tisch draußen neben der Haustür. Die restlichen Gläser nahm sie mit in die Scheune. Johann, den Grete noch aus ihrer Kindheit hier auf dem Hof kannte, und Hans hatten bereits eine grüne Decke auf den Heuballen ausgebreitet und warteten auf die jungen Frauen.
Kaum hatten sie sich begrüßt und mit einem Schluck Wein angestoßen, wurde erneut die Scheunentür geöffnet. Im Lichtschein konnte Grete nur den Schatten einer jungen Frau erahnen, aber ihr untrügliches Bauchgefühl wusste sofort, wer dort in der Tür stand. Mit einem Freudenschrei stürzte sie auf ihre Zwillingsschwester zu und schloss Ida unter Tränen in die Arme. So lange hatten die beiden sich nicht gesehen. Marie hätte ihr an diesem Abend keine größere Freude machen können. Die Zwillinge waren wie Seelenverwandte und stets irgendwie in Kontakt, doch in diesen Zeiten wurde es schwerer und schwerer. Sich zeitgleich bei der Familie auf dem Hof zu treffen war nahezu unmöglich. Grete fühlte sich wie im siebten Himmel. Sie war wieder komplett.
Ihre Eltern saßen auf der Bank neben der Haustür und hörten ihre Mädchen lachen. Musik erklang aus der Scheune und beide freuten sich über den unbeschwerten Abend. Lange saßen sie draußen und lauschten den fröhlichen Liedern der jungen Leute. Schade, dass es nicht immer so sein konnte.
Eine Weile schaffte ihre Mutter es, die Kinderschar so ruhig zu halten, dass Ida und Grete weiter schlafen konnten, nachdem ihr Vater schon in den Stallungen und Marie bei ihrer Arbeit im Gutshaus war. Doch das Gekicher der Kinder und ihre Neckereien sorgten bald dafür, dass Grete den Versuch aufgab, sich weiterhin schlafend zu stellen. Mit einem Überraschungsangriff schnappte sie sich Maries Sohn, als der sich wiederholt an ihren Haaren zu schaffen machte, um sich dann schnell zu verstecken. Diesmal hatte sie ihn erwischt, was ihm einen erschrockenen Schrei entlockte. Bald darauf waren alle Kinder mit in ihrem Bett und tobten mit ihren beiden Tanten. Sie machten sich einen Spaß daraus, dass die Kinder sie ebenfalls nicht unterscheiden konnten und ließen sie bis zuletzt im Dunkeln tappen.
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