Draußen allerdings hörte man Schüsse. Von den Fenstern im 2. Stock aus konnten die Beamtinnen erkennen, wie ein Mann, also wahrscheinlich Hugo, von seiner Wohnung über den Garagen auf irgendjemanden zielte und schoss. Als er sich vom Haupthaus aus beobachtet fühlte, schoss er auf einige Fenster, die klirrend nach innen fielen. Die Geschosse ließen den Putz von den Wänden rieseln. Die Frauen hatten sich zu Boden geworfen und robbten in die Schutz bietenden Zimmer an der Frontseite.
Mit einem Megaphon forderte Velmond Hugo auf, sich zu ergeben und ohne Waffe aus dem Haus zu treten. Nur so könne er seiner Verhaftung entgehen. Allerdings müsse er sich der Einvernahme unterziehen:
„Wenn Sie hier rumballern, verschlechtern sich mit jedem Schuss Ihre Chancen! Sie gefährden andere und sich selbst! Wir können warten, bis Sie Ihre Munition verschossen haben!“
Überraschend erschien Hugo an einem kleinen, schmalen Fenster, das wohl das Klofenster sein musste. Er brüllte hinaus:
„Da könnt Ihr lange warten. Ich habe ganze Kisten voller Munition aus Wehrmachtsbeständen. Ich habe sogar Panzerfäuste und Handgranaten und kann jederzeit den ganzen Laden in Schutt und Asche legen! Wer dieses Haus betritt, ist eine Leiche!“
„Herr Hugo, weshalb dieses Theater? Was haben Sie denn zu verbergen? Sie waren doch allenfalls Helfer. Sie haben doch nur vollzogen, was andere angerichtet hatten!“
„H e r r H u g o ? Dass ich nicht lache! So blöd bin ich noch nie angeredet worden. Wollt Ihr mich verscheißern? Ich war doch nur der Dreck unter ihren Stiefeln! Ob bei den Nonnen oder den Emanzen! H e r r ? Sie wollen mich wohl verarschen? Aber das kann ich Ihnen versichern: Selbst wenn Sie mich jetzt totschießen! Ich habe genau Tagebuch geführt über alle Verbrechen, die hier stattgefunden haben - und nur ich weiß, in welchen Gräbern auf unserem Friedhof Untermieter zu finden sind!“
„Darum geht es doch, Hugo! Sie sind doch nur Mitwisser. Sie sind Kronzeuge. Können auf Milde hoffen. Sie sind doch nur der Letzte, den die Hunde beißen! Geben Sie doch auf! Lassen Sie Ihr Schießeisen fallen!“
„Das ist doch nur ein Trick! Sie haben mich doch schon lange auf dem Kieker! Ich kenne Sie doch! Wenn Sie mich eingelullt haben, klicken die Handschellen. Da liefere ich Ihnen lieber ein Gefecht bis zur letzten Patrone und sterbe hier, wo ich mein beschissenes Leben geführt habe!“ Wie zur Bestätigung schoss er wieder in Richtung Klosterhof, wo die Querschläger durch die Luft sirrten.
„Hugo, ich komme jetzt rein zu Ihnen. Ich bin nicht bewaffnet. Ich will nur mit Ihnen reden. Ich habe keine Handschellen. Wenn Sie kooperieren, kommen Sie gut aus der ganzen Sache raus. Dann können Sie wahrscheinlich bald wieder zurückkehren oder gehen, wohin Sie wollen! Sie haben es in der Hand, ob Sie für immer hinter Zuchthausmauern verschwinden oder bald als freier Mann leben können!“
Lothar Velmond kam langsamen Schrittes mit erhobenen Händen aus seiner Deckung.
„Freier Mann! Dass ich nicht lache! Ich habe ja noch nicht einmal Papiere! Ich bin doch gar nicht existent! Was wissen denn Sie schon, wie es den Stiefelknechten dieser Scheißgesellschaft geht? Wann - glauben Sie denn - habe ich zuletzt Geld gesehen? Wann meinen Lohn bekommen, wenn ich ihn nicht erpressen konnte? Oh ja, wenn wieder was schief gelaufen war, dann klingelte mal ein kleines Sümmchen Schweigegeld in der Hand. Dumm genug, wie ich war! Schweigegeld! Wo sollte ich es denn ausgeben? Wofür? Die hatten mich doch in der Hand. Hugo! Hugo! Ich heiße nicht Hugo, damit Sie es wissen! Die haben mich doch nur zum Hugo gemacht! Hugo, Hugo - das ist doch nur eine Kurzform von Arschloch, von Mistkerl, von G’schwerl! Von Abtreter!“ Voller Wut schoss er abermals eine Salve in die Fenster des Haupthauses.
Velmond hatte inzwischen die Tür erreicht. Die Polizisten hatten das Haus umstellt und waren mit Hilfe zweier Bewohnerinnen über die Küche und Wäscherei in die ehemaligen Stallungen und jetzigen Garagen gelangt. Hinter Hugos Wohnung hatten sie Leitern angestellt. Einige Polizisten versuchten, ihn zu provozieren, damit er seine Position am kleinen Fenster nicht verlässt. Das war ja seine Schießscharte, hinter der er sich sicher fühlte. Dennoch verschwand er plötzlich. Offenbar hatte er Velmond gehört, der die Treppe zu seiner Wohnung hinaufzusteigen begann.
„Ich bin nicht bewaffnet, Hugo oder wie Sie immer heißen! Sie sind für mich nicht der Hugo. Ich will mit Ihnen sprechen. Ich will, dass Sie uns helfen. Unerlaubter Waffenbesitz - da kommen Sie drüber hinweg.“
„Bleiben Sie stehen, Herr Hauptkommissar! Euch Bullen kann man doch nicht trauen! Knöpfen Sie Ihre Jacke auf! Ziehen Sie Ihre Jacke aus, damit ich sehen kann, was Sie da drunter versteckt haben!“
Velmond folgte seinen Anweisungen. Hugo hielt seinen Gewehrlauf ständig auf ihn gerichtet. Da schepperte irgendetwas hinter ihm. Blitzschnell drehte er sich um und schoss blindlings eine Salve in den hinter ihm liegenden Flur. Dann hörte man nur noch das Klicken in seiner Waffe. Das Magazin war leer. Zwei Polizisten traten von beiden Seiten aus Zimmertüren, schlugen Hugo die Waffe aus der Hand. Er taumelte und fiel hinterrücks die Treppe hinunter, Hauptkommissar Velmond mit sich reißend, den er sofort an der Gurgel zu packen versuchte. Der aber rammte sein Knie mit voller Wucht zwischen Hugos Beine. Mit einem Aufschrei ließ dieser ihn los. Ein Beamter, der sich an der Haustür bereit gehalten hatte, bekam ihn an den zappelnden Füßen zu packen und zog ihn raus auf den gepflasterten Hof. Nun allerdings klickten die Handschellen.
„Hugo oder wie immer Sie wirklich heißen, das hätten Sie alles vermeiden können. Was in den letzten Sekunden zusammengekommen ist, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Tötungsversuche und so weiter und so weiter, jetzt wird es erst richtig schlimm für Sie! Abführen!“
Nachdem Hugo in Gewahrsam genommen war, konzentrierten sich die Beamten auf die möglichen Waffenverstecke. Sie wurden schnell fündig. Auf dem Dachboden der Stallungen stießen sie auf ein umfangreiches Waffenarsenal, ausschließlich Kriegswaffen der deutschen Armee. Ganze Kisten mit Munition, Handgranaten, Panzerfäuste. Wenn der Blitz mal in dieses Haus eingeschlagen hätte, nicht auszudenken, was dann passiert wäre. Eine Sondereinheit wurde angefordert, um das gefährliche Gut zu bergen und abzutransportieren.
Velmond durchsuchte in aller Eile Hugos Wohnung. Er fand in der Schublade eines alten, wackligen Küchentisches ein paar Schreibhefte und alte Kalender. Dazu ein Sparbuch - noch auf Deutsche Mark lautend. Voller Erstaunen stellte er fest, dass Hugo in fast allen Zimmern Regale voller Bücher bis an die Decke hatte.
Das Hinterhaus wurde versiegelt. Im Haupthaus summte es wie in einem Bienenstock. Die Schießerei, die klirrenden Fensterscheiben, die in die Wände geballerten Geschosse, die Einsatzwagen, die jetzt rasch mit Blaulicht und Sirene aus dem Wald kamen, das war ja wie im Krieg. Aber so schnell, wie der Konvoi vorgefahren war, so schnell setzte er sich wieder in Bewegung. Nur eine kleine ‚Task Force’ blieb zurück. Velmond war sich dessen bewusst: Dies war erst - wie man zu sagen pflegt - die halbe Miete.
Eigentlich empfand Velmond Mitleid mit diesem Mann, so wie er Mitleid mit den vielen, unzählig vielen Hugos in dieser Gesellschaft empfand. Mit jenen, die die Drecksarbeit verrichten und dann noch ihren Kopf dafür hinhalten mussten. Oh ja, auch er selbst fühlte sich manchmal als Hugo. Und wenn er an die Soldaten in Afghanistan dachte, waren sie nicht alle Hugos?
Am nächsten Tag musste er ihn vernehmen, zusammen mit Elsterhorst und seiner Assistentin Möbius. Jetzt machte Hugo einen äußerst entspannten Eindruck, so als ob er froh wäre, dass nach viel zu langer Zeit eine qualvolle Epoche für ihn zu Ende gegangen wäre. Velmond übernahm die erste Runde:
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