Jahre her ist, dass ich innerlich ungefähr so alt war, wie ich äußerlich gewirkt habe. Gott sei Dank spüre ich ihn heute noch deutlich, diesen Zustand des frischen Mutwillens und der spöttischen Kraft, die zu immer neuem Lächeln und Flirten verführt und zum beleidigt Fliehen, um neugierig wiederzukehren. Heute noch bin ich oft kess genug, dass mir die Menschen zugehen würden, ließe ich sie. Teufelchen, der fremde Tänzer in irgendeinem psychedelischen Club, ist der einzige, der mir in der letzten Zeit nahekommen ist. Irgendwann hat er mir beim Tanzen Tee gebracht. Man stelle sich vor, er sagte »... vertrau' mir, es ist nur Tee.« Als würde er meine Geschichte kennen. Ich hab' ihm vertraut, nur, um zu probieren, wie es sich anfühlt. Gesprochen habe ich nie mit ihm, ihn immer nur beobachtet. Beim Tanzen schließe ich die Augen, damit man mich in Ruhe lassen soll. Dem grellen Licht einer Unterhaltung mag ich mich immer noch nicht stellen. Gut, dass die Menschen nicht ahnen, wie sehr ich hassen kann.
*
Es ist mehr als zehn Jahre her, dass der fremde junge Mann am Nebentisch mich so sehr fasziniert hat, als wäre er aus Gold. An jenem Nachmittag war ich eine biegsame, schüchterne Zweiundzwanzigjährige mit dunkler Pagenfrisur, glatter Haut, dünnen Schenkeln und kurzen Fingernägeln, ständig gegen die Lust auf Süßigkeiten kämpfend und bereits beseelt vom Vollbewusstsein der großartigen Abenteuer, die ihrer sicherlich harrten. Unschuldig war ich, ein wenig gemartert von den üblen Verhältnissen in meinem Elternhaus, aber seit Jahren mit Hilfe von Katzen, Bäumen, Fahrrädern und Büchern vermeintlich gefeit gegen wirkliche Erschütterungen. Ich litt, wie jedes Kind in gärenden Ehen leidet, das, längst erwachsen, die kämpfenden Eltern nicht aus den Augen zu lassen wagt, aus Angst, sie könnten einander töten oder sich selbst und das Leben des Kindes noch übler beeinflussen, als sie es ohnehin schon taten.
Mein Bruder, jünger, ist ein Ausbund labiler Feinsinnigkeit gewesen, ein so lieber Bub, dass alle Welt gestaunt hat über seine süße Gescheitheit und sein unbefangenes Geschick in all seiner Versunkenheit in undurchschaubare Träume. Mit den Jahren eines Heranreifenden wurde er zunehmend strenger. Er sollte alles Pech der Welt, ein bisschen Karriere, eine nicht liebende Ehefrau und zwei süße Kinder erleben und jung, qualvoller als vorstellbar, sterben. Er schaute zeitlebens dramatisch offen und naiv in die Welt, dies trotz seiner gewaltigen Intelligenz, die ihn zu einem hilflosen Genie gemacht hat. Sein Sohn hat dieses beschämend klare, traurige Schauen geerbt. Die Krankheit brach in einer Zeit aus, als wir uns - absichtlich - schon ziemlich auseinandergelebt hatten, als die Katastrophen in meinem Privatleben eskalierten und unsere Mutter den Kampf gegen die Alkoholsucht scheinbar zu verlieren im Begriff war.
Seit ich meinen toten Bruder gesehen habe, weiß ich, dass es im Leben nur einen Trost für alles Schreckliche gibt: den, dass man selbst unweigerlich sterben wird. Als ich Willie kennenlernte, hatte mein Bruder noch sieben Jahre zu leben, und er hat mich oft und oft gewarnt vor Willie. Vielleicht nehme ich meinem Bruder übel, dass er sich später aus der Affäre gezogen hat, vielleicht neide ich es ihm. Ich sage nicht »... so einfach aus der Affäre gezogen hat ...«, nein, das sage ich nicht. Denn ich glaube kaum, dass es grausameres Leiden gibt als das seine. Wenn ich heute sage »mein Bruder«, kann ich mir kaum noch etwas unter diesem Begriff vorstellen.
Ich hätte seine Warnungen ernst nehmen und vor seinem Tod einmal, ein einziges Mal wirklich offen mit ihm reden sollen. Es hat sich nie ergeben zwischen uns.
Indien.
An jedem Nachmittag, als ich den Langhaarigen zum erstenmal sah, waren mein Bruder und ich schon keine Geschwister mehr, nur noch Heranwachsende, die unterschiedliche Haltungen gegenüber ihren Eltern einnahmen. Er war immer »der Kleine« gewesen und hatte mich, »die Große«, zuerst bewundert und dann verabscheut, weil ich immer für alles eine Antwort gehabt habe, auch dann, als er seine eigenen Maxime präsentieren wollte. Damals bin ich fast stolz gewesen auf meine Rolle als »die Große«, habe wirklich um Frieden in der Familie gekämpft. Es war ein ungeheuerliches Unterfangen für einen Teenager, völlig aussichtslos. Und doch habe ich alles daransetzen wollen, unsere Familie zusammenzuhalten - auch auf Kosten der Bewunderung meines kleinen Bruders. Für ihn war ich bald nur noch eine zänkische, blöde Gans. Später hat er mich wohl gehasst.
Nach seinem Tod habe ich erfahren, dass er seinen Freunden viel von meinen Abenteuern auf Reisen erzählt hat. Ich habe nicht geahnt, dass er überhaupt davon gewusst hat ...
Wenn ich sage, ich wäre zur Zeit, da Willie in mein Leben trat, trotz allem »unschuldig« gewesen, meine ich weniger die Qualität meiner Lebenserfahrungen als vielmehr meine eigenen Vorstellungen. Ich saß wie eine brütende Henne naiv auf meinem Idealbild, einer Collage aus Edelmut, Liebe und Wahrhaftigkeit. Was immer ich Schlimmes erlebte und bezeugte, ich war sicher, das Gute würde immer wieder über die Menschen hereinbrechen und sie für alles entschädigen. Und ich war geübt im Schwelgen in wunderbaren Abenteuern. Allein im Wald herumspazierend überlies ich mich meiner Phantasie. Heute weiß ich, dass nur sie mir ein zuverlässiger Panzer war. Allerdings hatte mein süßer, fester Panzer ein Ablaufdatum.
Als ich ihn kennenlernte, begann die Macht der immer noch kindlichen Hoffnungsfreude zu erlahmen. Die Frage, wie er zu dem geworden war, der er eben war, stellte sich mir sofort. Was er über unsere gemeinsame Zeit denkt, weiß ich bis heute nicht genau.
An jenem Nachmittag erhob ein Langhaariger sich aus Gläserklirren, Stimmengewirr und den Rauchschwaden um den Nebentisch, marschierte im gelben Gasthauslicht zwischen den Gästen durch den Raum und warf seine dunkle Mähne von einer Schulter zur anderen.
Ich erinnere mich, dass ich meinen Begleiter, meinen langjährigen Freund, gefragt habe »Wer ist das ...?«, und ich habe wohl auf eine Art gefragt, als sei mir Mister Universum höchstpersönlich über den Weg gelaufen, und ich könnte es nur nicht glauben. Und mein Freund, nennen wir ihn “Tommi”, gab brav Auskunft. Er kannte den Geheimnisvollen. Jeder kannte ihn, war er doch einer der übelst beleumundeten jungen Männer der Gegend. Aus wohlhabendem Elternhaus stammte er angeblich, und der Vater hätte seinem ältesten nie etwas Gutes getan, nur an viel Geld hätte er ihn kommen lassen ... sehr verdorben sei Willie und zu allem Überfluss bereits in Indien gewesen. Verdorben, was denn verdorben hieße, fühlte ich sofort den Impuls, ihn zu verteidigen. In Indien gewesen zu sein bedeutete damals, Bekanntschaft mit Rauschgift gemacht zu haben und wahrscheinlich zu eben diesem Zweck überhaupt nach Indien gereist zu sein ...
Mein Interesse schwoll. Nun hatte ich allerdings absolut keine Vorstellung von »Rauschgift« und davon, dass der Typ bekanntermaßen ein »Giftler« sein sollte. Ich verkehrte in den Kreisen von Bienen, Vögeln, Fröschen, Katzen und meinen Freundinnen sowie einigen Burschen mit Mopeds und Sinn für Saufgelage und Herumschmusen, verstand etwas vom Biertrinken und einer Mischung aus Rotwein und Limonade und vom Zeichnen, und damit hatte es sich. Aber Rauschgift ... es klang - irgendwie interessant. Fernsehschauen mochte ich nicht, abgesehen von Filmen über Tarzan oder Dracula, also waren mir die Eigenheiten der Drogenszene bislang entgangen. In meinem Heimatort gab es wohl Gerüchte von verruchten Kneipen, wo angeblich »diejenigen« herumlungerten, vor denen uns unsere Eltern warnten, aber ich hatte mich nie damit auseinandergesetzt.
So schlimm würde es schon nicht sein, glaubte ich fröhlich, überaus angetan von dem attraktiven Burschen mit dem intensiven Blick. Er war größer als alle, die ich kannte, besser gebaut, hatte schönere Haare und Augen und eine Ausstrahlung, die mir Herzflattern bescherte. Ja, ja, er hat was, gibt meine beste Freundin heute immer noch zu, wenn er auch für sie nie als Partner in Frage gekommen ist. Die Art, wie er sich damals umgeschaut und geraucht hat, hatte nichts zu tun mit dem linkischen Habitus der Bubis, die ich kannte. Tommi lief außer Konkurrenz, ihn kannte ich seit Jahren und wusste längst nicht mehr, ob er wirklich der richtige Mann zum Heiraten für mich sei, wie meine Oma immer behauptete. Tommi hatte ich gern.
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