Melgardon hatte ihm seinen Neffen, den Thronfolger Brandais, bereits am Tag nach seiner Ankunft offiziell vorgestellt. Seitdem waren sie sich nicht mehr begegnet. Melwyn von den Hohen Weiden , dachte Roman, seit seiner Adoption durch den König: Melwyn Derengold. Dieser Junge würde den Thron besteigen, der eigentlich ihm zukam, falls er lange genug lebte.
Wenn Melwyn erwartet hatte, dass der Fürst das Gespräch aufnahm, wurde er enttäuscht. Er trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, dann fiel sein Blick auf das Schwert und er beugte sich begeistert vor: „Fürst Gorderley, ist das Euer Schwert? Darf ich es anfassen?“
„Nein!“ Melwyn, der die Hand bereits ausgestreckt hatte, zuckte zurück. Es dauerte nur einen Atemzug, bis sein Schreck sich zu Trotz wandelte. Er legte die Hand auf den Knauf seines eigenen Schwertes und trat einen Schritt zurück. „Ich bin hier, weil ich möchte, dass Ihr mich unterrichtet, Fürst Gorderley.“ Der Fürst nahm seine Waffe und schob sie in die Scheide, die er neben sich auf den Brunnenrand legte. „Ihr habt bereits einen Lehrer.“ Melwyn schüttelte energisch den Kopf. „Ihr seid besser als Galen. Man sagt, Ihr seid der beste Krieger in ganz Eldorad. Ich will von Euch lernen, wie man in Gorderley kämpft, damit ich Brandai besser schützen kann.“ Es war nichts Kindliches in seinen entschlossenen Worten. Hier sprach der Prinz von Brandai, der sich trotz seiner Jugend der Verantwortung seiner Stellung bewusst war, aber der Fürst betrachtete ihn ablehnend. In Gorderley hatte er seinen Knappen zurückgelassen. Julian würde noch immer nicht wissen, warum sein Herr ohne ein Wort gegangen war, um sein Land an Brandai zu verraten. Julian war ein guter Knappe, der beste von den dreien, die er ausgebildet hatte. Es war eine Freude gewesen, ihn zu unterweisen, seine Fortschritte zu beobachten, sein Talent zu formen…Roman ballte unwillkürlich die Faust. Vorbei. Das war vorbei. Er entspannte sich. „Ich unterrichte nicht“, erwiderte er ruhig. Melwyn wirkte überrascht und runzelte die Stirn, während er einen Augenblick über die Zurückweisung nachdachte. Dann blickte er den Fürsten stolz an und holte tief Luft. „Ich habe das Recht, den besten Lehrer zu bekommen, den es hier gibt“, sagte er langsam und fuhr hastiger fort, „ich kann es Euch befehlen, wenn Ihr mir nicht helfen wollt“, er stockte, denn die Hitze des Nachmittages schien von einem Augenblick zum anderen eisiger Kälte zu weichen. Der Fürst hatte sich nicht bewegt, dennoch lag plötzlich eine Spannung zwischen ihnen, als hätte er sein Schwert gezogen. Nicht einmal das Summen der Mücken durchdrang die plötzliche Stille, bis der Fürst leise entgegnete: „Ihr tragt einen alten Namen, Prinz Melwyn Derengold von den Hohen Weiden“, wie genau kannte er die Ahnenfolge der Herrscher von Brandai. Seit er sich erinnern konnte, hatte sein Vater ihm die Abstammungslinien des brandaianischen Adels vorgesagt. Elder von Gorderley fand sich in den Stammbäumen der Brandai besser zurecht, als der König selbst. Als er Irana Derengold entführte und zu seiner Gattin machte, geschah dies aus dem einzigen Grund, dass ihr gemeinsamer Sohn damit einen rechtmäßigen Anspruch auf den Thron haben würde. Roman war gezeugt worden, um Gorderley und Brandai zu vereinen, indem er es eroberte und die Brandai zwang, sein Blutrecht anzuerkennen. Roman fuhr fort: „Das Schwert, das Ihr einstmals tragen werdet, haben große Männer geführt, auf der Seite Eures Vaters, wie in der Linie der Derengold. Vegan von den Weiden, Baran der Ältere und sein Sohn, Gutwart Derengold, …ihre Taten, ihr Mut machten sie zu berühmten Führern. Sie haben das Recht erworben, Gefolgschaft zu verlangen. Könnt Ihr, Prinz Derengold, eine Leistung vorweisen, die Euch das Recht gibt, mir zu befehlen?“ Die letzten Worte kamen scharf, während er den Prinzen streng ansah. Obwohl der Fürst noch immer saß, hatte Melwyn das Gefühl, zu ihm aufblicken zu müssen und er kam sich plötzlich klein und dumm vor. Langsam löste er den Griff vom Knauf seines Schwertes und ballte die Fäuste. Schon während der Fürst sprach, war sein Gesicht rot angelaufen vor Scham. Er hatte den Fürsten nicht beleidigen wollen, aber nun steckte er in einer unlösbaren Falle. Trotz all seiner Privilegien hatte Melwyn ein gutes Gespür für Angemessenheit und niemand musste ihm sagen, dass er nicht auf seinen Befehl bestehen konnte, ohne sich lächerlich zu machen. Aber jetzt einfach zu gehen, abgekanzelt wie ein unartiges Kind, war eine Demütigung, die er auch nicht ertrug. Der Fürst wartete auf eine Antwort, und die konnte eigentlich nur eine Entschuldigung sein. Melwyn kaute verlegen auf seinen Lippen und brachte kein Wort heraus. Das Schweigen wurde peinlich, doch der Fürst machte keine Anstalten, ihm zu einem Ausweg aus der verfahrenen Lage zu verhelfen. Trotzig trat Melwyn einen Schritt zurück und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Es kostete ihn sichtlich seine ganze Beherrschung, den strengen Augen nicht auszuweichen als er schließlich antwortete: „Ich.. ich überlege es mir noch einmal. Ich gehe dann jetzt.“ Ruckartig drehte er sich um und versuchte mit festen Schritten davon zugehen.
Der Fürst sah dem jungen Prinzen nach, bis er um die Wegbiegung verschwand. Er war erleichtert, dass Melwyn nicht auf seinem Wunsch bestand. Natürlich hätte er ihm gehorchen müssen, sein Eid ließ ihm keine Wahl, aber das hätte sein schwieriges Verhältnis zu dem Thronfolger noch mehr belastet. Nachdenklich verfolgte er einen gelben Falter, der zwischen den blühenden Dolden eines Sommerflieders hin und her flatterte, bis der Fürst ihn im Gewirr von Lichtreflexen und Zweigen aus den Augen verlor. Diese Begegnung war nicht gut verlaufen und sie hatte kein wirkliches Ende gefunden. Irgendwann würde er sich mit dem jungen Prinzen auseinandersetzten müssen, ungeachtet, ob Melwyn ihm den zustehenden Respekt zollte oder nicht.
Er seufzte und wollte gerade wieder nach seinem Schwert greifen, als erneut Schritte die Stille des Nachmittags durchbrachen. Fast erwartete Roman eine Wache oder einen der normalerweise unsichtbaren Begleiter, die ihn seit seiner Ankunft in Undidor unauffällig beobachteten, aber über den Kiesweg nährte sich ein junger Mann, fast gemütlich und doch zielgerichtet. Einer der Ritter vom Hof des Königs, erst nach einem kurzen Moment des Überlegens fiel Roman sein Name ein: Stefan Esterhazy, Baron von Samland und Rechen. Ohne jede Eile kam er heran und blieb wie zufällig vor dem Fürsten stehen. „Hallo“, Stefan Esterhazy deutete eine leichte Verbeugung an, die wirkte, als sei ihre Notwendigkeit ihm gerade erst eingefallen. Trotzdem schien er nicht im Mindesten verlegen. „Störe ich Euch?“ Bisher hatte Roman kaum Kontakt zu den Rittern am Hof gehabt. Man mied ihn, viele machten aus ihrem Hass auf Brandais Todfeind kein Geheimnis. Nur die allgemeine Hochachtung vor dem König bewahrte den Fürsten vor direkten Anfeindungen, und die berechtigte Sorge, in einem Duell den Kürzeren zu ziehen. Roman hatte eine beachtliche Geschicklichkeit im Überhören von indirekten Beleidigungen entwickelt und zog es vor, der Gesellschaft der Ritter aus dem Weg zu gehen. Unwillkürlich suchte er nach einem Anzeichen von Anzüglichkeit oder Provokation, aber Esterhazys Lächeln offenbarte nur fröhliche Unbekümmertheit. Dennoch blieb Roman zurückhaltend. „Es sind die Gärten des Königs, nicht meine.“
Esterhazy schien die unausgesprochene Abweisung nicht zu bemerken. „Na ja“, er zuckte die Achseln und warf einen kurzem Blick in die Runde, „es ist nicht gerade die belebteste Ecke in die Ihr Euch zurück zieht.“
„Ich wüsste nicht, was Euch das anginge“, antwortete Roman kühl und erhob sich. Esterhazy trat höflich einen Schritt zur Seite und stützte den Fuß auf den Brunnenrand. „Ach wisst Ihr, ich dachte, Ihr hättet vielleicht Lust, ein wenig mit mir zu fechten. Deshalb habe ich Euch gesucht. Ich meine, ich bin nicht der Waffenmeister, aber andererseits habt Ihr in Brandai nicht gerade viel Auswahl bei Euren Gegnern, denke ich.“ Er ließ die Hände, die er auf den Oberschenkeln aufgestützt hatte, sinken und lächelte den Fürsten fröhlich an. Roman legte sein Schwertgehänge an und verschränkte dann die Arme vor der Brust. „Ich habe kein Interesse.“ Außer seiner Würde war ihm wenig von seinem alten Leben geblieben. In Gorderley wäre es jedem Krieger eine Ehre gewesen, mit dem Fürsten die Klingen zu kreuzen, Esterhazys Angebot kam einer Beleidigung gleich. Doch dem schien die Kälte in der Ablehnung des Fürsten zu entgehen. Er nahm den Fuß vom Brunnenrand. „Wie Ihr meint, schade eigentlich.“ So wie er es sagte, klang es nicht sonderlich enttäuscht. „Na, dann geh ich mal wieder, wenn Ihr nichts dagegen habt?“ Das Nicken des Fürsten wartete er kaum ab, bevor er davon schlenderte, kurz verhielt, um einem Vogel nachzusehen, der über den Weg flatterte und vom Wegrand einen Grashalm abzupflücken und zwischen die Zähne zu stecken.
Читать дальше