Roman folgte seinen Gedanken: „Es wird Verunsicherung geben, früher oder später. Aber Gorderleys Kampfkraft ist dennoch zu groß.“
Der König stand auf. „Ich bin mir sicher, dass Fürst Elder einen großen Fehler gemacht hat. Ich weiß noch nicht, wie wir das nutzen können. Aber ich bin Euch dankbar, für Eure Offenheit.“ Er machte eine Pause. Auch Roman von Gorderley hatte sich erhoben und wartete auf ein Zeichen, sich entfernen zu dürfen.
„Fürst Gorderley, ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um das Fürstentum zu retten, Brandai und Gorderley brauchen einander. Wir werden einen Weg finden“, erklärte Melgardon fest.
Überrascht blickte Roman auf die ausgestreckte Hand des Königs und ergriff sie schließlich, dabei senkte er den Blick. „Zu Eurem Befehl, mein König.“
Melgardon blickte ihm noch lange gegen die geschlossene Türe nach. Vielleicht war das eine der größten Schwächen Romans von Gorderleys: Für ihn gab es stets nur eine Seite: Gut oder schlecht, Freiheit oder Knechtschaft, ohne einen Spielraum für Zwischenlösungen.
Und dann kam ihm der Gedanke, dass Elder von Gorderley noch einen weiteren Fehler begangen hatte: Die absolute Integrität seines Sohnes zu unterschätzen, kam das Fürstentum nun teuer zu stehen. Der König setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und gönnte sich ein frohes Lächeln. Zwei Fehlurteile eines Feindes, der bisher unfehlbar schien - wenn er selbst klug und besonnen handelte, hatte Brandai vielleicht eine Chance.
Roman von Gorderley lief eine Weile ziellos durch die Stadt. Er fühlte sich nicht erleichtert, nur abermals beschämt und enttäuscht. Immer wieder hörte er Elder von Gorderley sprechen, ohne Schuldgefühl, ja, ohne sich der Ungeheuerlichkeit seines Tuns bewusst zu sein.… seit die Göttin ihm das Verbrechen offenbart hatte, war sein Vater für ihn gestorben und sein eigenes Leben zerbrochen. Er konnte nur die Schuld abtragen, die Elder von Gorderley über sein Volk gebracht hatte, die Schuld, deren ganzes Ausmaß er noch immer nicht hatte zugeben können.
Nach einer Weile lenkte er seinen Weg in das Viertel der Kleidermacher. Als er aufbrach, hatte er nur das Nötigste für den langen Ritt mitgenommen. Seine Zukunft schien in den Kerkern Brandais zu enden. Der König hatte anderes entschieden, so dass er sich langsam für ein Leben in Undidor einrichten musste. Gold besaß er genug, er trug nicht nur einen Beutel mit fast 400 Münzen bei sich, echte schwere Gorderley-Taler, von denen jeder das vierfache eines brandaianischen Goldstückes wert war, sondern noch ein Säckchen mit geschliffenen Edelsteinen, die hier in Brandai ein Vermögen darstellten, von dem er Jahre würde leben können.
Bei einem Schneider ließ er sich Hemden anmessen, dazu zwei Hosen aus Leder und feinem Wolltuch. Einen Schuster beauftragte er mit der Fertigung neuer Leisten für Stiefel. Zum Schluss erstand er noch einige Meter Baumwolltuch, das er bei einer Näherin ließ, um daraus Unterhemden und Hosen anzufertigen. In Gorderley kannte man keine Baumwolle, aber ihm gefiel die Luftigkeit des Materials. Zwar mochte der Stoff die Wärme weniger halten, als seine gewohnte wollene Wäsche, doch das spielte im Tiefland Brandais, wo selbst die die Winter warm waren, keine Rolle.
Für die meisten Dinge seines persönlichen Bedarfs beauftragte er gewöhnlich Tore, der sich halbwegs anstellig zeigte, doch heute besuchte er noch mehrere Läden und Handwerker um Rasierzeug, Schleifsteine, Papiere, Federn und Tinte zu erwerben. Alle Waren ließ er in sein Haus schicken. Oft staunte er über die Preise. Scheinbar alles, was in Gorderley teuer und selten war, war hier in vielfältiger Form zu Spottpreisen erhältlich. Luxusgüter wie Glas, bunte Stoffe aus unbekannten Materialien, Papier, sogar vollständige Bücher fand er in den Auslagen einiger Händler für wenig Geld. Dagegen waren Gegenstände aus Metall jeder Art unbegreiflich teuer, schon einfache Messer für den Küchengebrauch kosteten bis zu zehn Silberstücke. Geschirr bestand in erster Linie aus Holz oder Glas, Zinnteller fand er überhaupt nicht, ebensowenig Becher. Nach einer Lampe suchte er ebenfalls vergebens, die Brandai benutzen scheinbar nur Kerzenlicht und hatten die Vorteile von Petroleum noch nicht erkannt. Die letzten Worte des Königs schossen ihm in den Sinn: Gorderley und Brandai brauchen einander, tatsächlich mochte ein Handel zwischen den Ländern Nutzen für beide bringen. Dass es in Brandai irgendetwas Brauchbares mit Ausnahme von Sklaven für Gorderleys unersättliche Bergwerke geben könnte, war neu und überraschend.
Zum Schluss schlenderte Roman über einen der Märkte, auf denen Bauern der Umgebung täglich ihre Feldfrüchte feil boten. Die Vielfältigkeit des Angebots war faszinierend und Roman kannte kaum die Hälfte des Obstes und Gemüses auf den Tischen und Karren. Von Anfang an hatte er Tores Küche erstaunlich abwechslungsreich empfunden, obwohl sein Diener sicher kein Meister der Kochkunst war. Inzwischen wunderte er sich nicht mehr, gab es doch allein mindestens vier verschiedene Sorten Kartoffeln, Rüben in allen Farben und Formen, Gartenfrüchte, grüne und blaue Trauben, Zitronen und Orangen, die er nur vom Hörensagen kannte – Brandais Boden kam an Fruchtbarkeit der Ebene von Eloi gleich, nur dass die Brandai offenbar bedeutend einfallsreicher in seiner Nutzung waren, als die Einwohner der gordischen Provinz.
Feldfrüchte und Brot kosteten zudem nur einen Bruchteil dessen, was er aus Gorderley gewohnt war. Er fragte sich, wie die Bauern unter diesen Bedingungen überleben konnten, bis ihm einfiel, dass es in Brandai statt freier Bauern nur Leibeigene gab, ein an Sklaverei angelehnter Status, der auf die Lebensumstände der Betroffenen kaum Rücksicht nahm.
Gegen Abend begab er sich zurück zur Burg. Der Waffenmeister hatte um ein Treffen gebeten und Roman freute sich auf die Aussicht eines guten Waffenganges. Die Spätsommersonne sandte ihre Strahlen über die polierten Marmorlöwen, als er die Stufen zu der Trainingshalle hinauf stieg. Der Waffenmeister lehnte mehrere Meter von der Türe entfernt an der Wand und sah ihm entgegen, ansonsten war die Halle leer. Hinter ihm fiel die Türe ins Schloss, als er als aus den Augenwinkeln ein Aufblitzen wahrnahm. Sofort riss er den linken Arm hoch und fing den fliegenden Shuriken mit dem bloßen Unterarm ab. Scharfe Zacken bohrten sich in den Muskel, doch er ignorierte den Schmerz. Automatisch rief er sein Schwert in die Hand, statt es umständlich zu ziehen und wehrte einen zweiten Kampfstern ab. Dann war der Waffenmeister vor ihm. Galen trug keine Rüstung, war aber mit Schwert und Dolch bewaffnet und warf sich ohne ein Wort in den Kampf. Sein Angriff drängte den Fürsten bis zur Türe zurück. Roman konnte die blitzschnell aufeinander folgenden Hiebe zunächst nur parieren und den Stichen des Dolches ausweichen, doch schließlich verschaffte ihm ein Konterschlag genug Bewegungsspielraum, um zur Seite zu weichen und seinerseits anzugreifen. Der Waffenmeister beherrschte den beidhändigen Kampf perfekt. In einer Bewegung wehrte er Romans Klinge mit dem Parierdolch ab und griff gleichzeitig mit dem Schwert an. Er kämpfte ohne Rücksicht auf sich selbst und auch als Roman ihn das erste mal traf, beeinträchtigte die blutende Armwunde seine Zielstrebigkeit nicht. Mit der tödlichen Konsequenz des Kampfsklaven gab er keine Sekunde nach, selbst als er durch eine weitere Attacke an der Hüfte verletzt wurde.
Roman von Gorderley war von dem Angriff überrascht worden, aber langsam stellte er sich auf den Waffenmeister ein. Dies war offensichtlich kein Übungskampf. Galen setzte gnadenlos sein ganzes Können und die Erfahrung seiner Jahre ein, um ihn zu verletzen oder zu töten, zumindest um jeden Preis nieder zu ringen. Mehrfach unterlief er die Deckung des Fürsten und schlitzte mit der Schwertspitze die Kleidung bis zur Haut auf, konnte aber keinen entscheidenden Treffer landen.
Читать дальше