Trotzdem war die Zielstrebigkeit der Gorderley beängstigend. Niemand schien Zweifel an den Plänen des Fürsten zu äußern. Nach kaum einer halben Stunde verließen die Krieger das Zelt und der Fürst blieb mit dem Knappen allein zurück. Beide verschwanden aus Curfelds Blickfeld, doch nun sprach der Fürst erstaunlicherweise wieder Brando, so dass er ihrem Gespräch folgen konnte.
Roman von Gorderley schien sich für den Kampf zu rüsten. „Du wirst mich nicht begleiten“, hörte Curfeld ihn sagen.
„Herr...“
„Du bleibst hier und bewachst unseren Gast.“
Nach einer längeren Pause sprach der Fürst erneut: „Mein Knappe versteht es eindrucksvoll schweigend zu widersprechen. Muss ich dich an deinen Eid erinnern?“
Julians Stimme klang gequält als er antwortete: „Ich gehorche, Herr.“
„Ich rede nicht vom Gehorsam, sondern von Demut!“
Die Stimmen kamen wieder näher und der Fürst stand vor dem Tisch und schob die Karten zusammen. Er trug die typische gordische Lederrüstung mit eingearbeiteten Fäden aus Metall, die leichter war als ein Kettenhemd und dennoch einen vergleichbaren Schutz gab. In Brandai war das Verfahren, nach dem man Metallfäden ziehen und verweben konnte, nicht bekannt und die gordischen Rüstungen waren eine begehrte Kriegsbeute. Der Knappe trat mit einem Helm in der Hand in den Lichtkreis der Lampe. Sein Gesicht war angespannt, als er seinen Herrn offen ansah.
„Herr, wenn ich es nicht verdiene, mit Euch zu reiten...“ „Schweig!“, unterbrach ihn der Fürst harsch, doch dann legte er dem Knappen die Hand auf die Schulter. „Ich dachte, ich hätte deutlich gemacht, dass du mein Vertrauen hast. Warum hat es jeder verstanden, nur mein Knappe nicht?“
Julian senkte den Kopf: „Ich dachte...“
Der Fürst seufzte und nahm den Helm aus der Hand des Knappen. „Du bleibst hier. Wenn die Brandai das Lager stürmen sollten, tötest du ihn.“ Er warf einen Blick auf Curfeld. „Wenn ich fallen sollte, bringst du den Brandai nach Witstein und berichtest dem Fürsten, was geschehen ist.“ Nachdenklich musterte er den Knappen und setzte hinzu: „Behalte ihn im Auge. Ich möchte ihn hier vorfinden, wenn ich zurückkehre. Wenn er allerdings unverschämt wird, töte ihn gleich. Es liegt in deiner Hand, das zu entscheiden.“
Er ging zum Zeltausgang: „Mein Pferd?“ „Steht gesattelt bereit, Herr.“
Roman von Gorderley wandte sich noch einmal um. Die Hand lag auf dem Knauf des Schwertes, das wieder an seiner Seite hing. „Ein Knappe, Julian, sollte dort dienen wollen, wo sein Herr ihn braucht.“
„Ich bitte um Verzeihung, Herr“
„Wir reden später darüber.“
Der Vorhang wehte, von draußen drangen Hufgetrappel und Rufe herein, schließlich wurde es still.
Der Knappe verschob die Lampe so, dass der Schein wieder auf den Gefangenen fiel und blieb in einiger Entfernung von seinem Stuhl stehen.
Nun, wo sich nächtliche Ruhe über das Lager senkte, fühlte Curfeld zum ersten Mal Erschöpfung. Er war bisher zu abgelenkt gewesen, um seine erbärmliche Lage wirklich wahrzunehmen, aber nun ließen Müdigkeit und Schwäche den Stuhl schmerzhaft hart und die Fesseln unerträglich eng scheinen. Jeder Muskel im Körper protestierte und er wünschte sich nichts sehnlicher, als Arme und Beine wenigstens einmal ausstrecken zu dürfen. Es war undenkbar, in dieser Stellung Schlaf zu finden, doch es kostete ihn immer größere Selbstbeherrschung, ein Stöhnen zu unterdrücken.
Curfeld schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Atemzüge, einen zur Zeit, dann den nächsten. Er versuchte, nicht zu denken, aber die Eindrücke der letzten Stunden ließen ihn nicht los. Was hatte er nicht alles erfahren über seine Feinde. Was würde er darum geben, dieses Wissen für Brandai zu nutzen. Er versuchte die Muskeln der Oberschenkel anzuspannen, um das Gesäß zu entlasten, aber damit verlagerte er den Schmerz nur an eine andere Stelle.
Als er nach einer Weile aufsah, begegnete er dem forschenden Blick des Knappen, der an einer Zeltstange lehnte und den Befehl, den Gefangenen nicht aus den Augen zu lassen, wörtlich zu nehmen gedachte. Er wich dem Blick nicht aus. Julian war noch jung, kaum älter als die Jungen, die ihn gefangen genommen hatten. Nun, so gesehen, sollte er sich hüten, den Knappen zu unterschätzen. Wie scheinbar jeder Gorderley, trug er ein Schwert in einer Scheide am Gurt, selbst hier in der Abgeschiedenheit des Zeltes. Wahrscheinlich konnte er gut damit umgehen, nicht dass das in seiner Situation eine Rolle spielte.
Die Schmerzen kehrten zurück und wurden stärker. Eher um sich abzulenken als in echter Erwartung einer Antwort räusperte sich Curfeld: „Darf ich Euren Namen erfahren? Meinen wisst Ihr ja schon.“
Der Knappe schwieg zunächst, aber dann antwortete er doch: „Mein Name ist Julian Erkandar, Knappe von Fürst Roman von Gorderley.“ Curfelds Interesse war sofort geweckt. „Erkandar......seid Ihr verwandt mit..“, er brach ab, denn die Erwähnung des Toten hatte einen Schatten auf das Gesicht des Knappen geworfen, der sich nun straffte und das Kinn hob. „Perceval ist...war mein Bruder.“
„Dein Bruder?! Du hast tatenlos mit angesehen, wie dein Bruder vor deinen Augen umgebracht wurde?“ Die Worte waren heraus, bevor er gewahr wurde, was er gesagte hatte und er biss sich auf die Zunge. Julian war einen Schritt vorgetreten und hatte den Schwertgriff umklammert. Curfeld spürte eine Gänsehaut über seinen Rücken laufen und hörte im Geiste die Worte des Fürsten „Wenn er unverschämt wird, töte ihn...“ Er las den Wunsch im Gesicht des Knappen und verfluchte sich innerlich. Mehrere Atemzüge lang kämpfte der Knappe mit sich, bis er mit einem abfälligen Schnauben sein Schwert los ließ und sich wieder an die Zeltstange lehnte. „Gewogen und zu leicht befunden“, dachte Curfeld und unterdrückte einen Stoßseufzer. Die Lippen des Knappen kräuselten sich verächtlich und sein Blick ging hochmütig über den Brandai hinweg.
Die Zeit tropfte dahin. Jetzt wünschte sich Curfeld Kerzen, denn am Abbrennen des Wachses hätte man die Stunden abschätzen können. So aber reihte sich im gleichmäßigen Licht der Lampe nur eine Ewigkeit voller Schmerzen an die nächste. Er verlor das Gefühl in den Füßen, die wie kalte leblose Klötze an ihm hingen. Gleichzeitig spürte er ein unbändiges Bedürfnis, aufzuspringen und sich zu bewegen. In seiner Pein stemmte er sich so sehr gegen die Fesseln, dass die Haut an den Handgelenken riss und das Blut herunter lief. Julian sah ihm uninteressiert zu, höchstens dass der abfällige Zug in seinem Gesicht sich noch vertiefte.
„Was habe ich eigentlich zu verlieren“, dachte Curfeld und räusperte sich. „Wenn ich Euch beleidigt habe, bitte ich um Verzeihung.“ Sein Hals war trocken und rau und die Worte kamen krächzend.
Der Knappe sah weiterhin über ihn hinweg. „Wie könntet Ihr mich beleidigen. Ihr seid doch nur ein Brandai!“
Es klang wie eine eherne Wahrheit und traf ihn unvorbereitet. Er schluckte eine heftige Entgegnung herunter. Gewohnt, auf die Gorderley zu fluchen, war ihm nie in den Sinn gekommen, dass die Gorderley Brandai ebenso verachten könnten, wie umgekehrt.
„Würdet Ihr es einem dummen Ritter aus Brandai erklären?“, fragte er ruhig, die letzten Worte erstickten fast in einem trockenen Husten.
„Warum sollte ich?“
„Vielleicht, damit ich ein wenig klüger sterben darf?“
Der Knappe sah ihn zum ersten Mal seit seinen unglücklichen Worten wieder an und schien zu überlegen. „Möchtet Ihr etwas trinken?“
Fast hätte er den Kopf geschüttelt, doch sein Durst und seine Vernunft siegten und er nickte. Selbst wenn der Knappe ihn deshalb noch etwas mehr verachtete, wollte die Chance nicht vergeben, seine letzten Stunden etwas zu erleichtern.
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