Sie bewegten sich seit einigen Stunden auf einem schmalen felsigen Weg durch eine Gebirgslandschaft. Auf der einen Seite reckte sich ein steiler Geröllhang den Berg hinauf, auf der anderen Seite lag hinter einer Kante das Nichts.
Plötzlich ertönten an der Spitze des Zuges laute Rufe und sie hielten an. In solchen Situationen galt es, möglichst keine Neugierde zu zeigen. Der Sklave heftete den Blick auf die Hacken seines Vordermannes und atmete betont ruhig ein und aus.
Die Gorderley sprachen schnell und aufgeregt miteinander, dann ritten sie zu den wartenden Sklaven zurück und schlossen die Fußketten auf. Als sie vorwärts hasteten, erkannte der Sklave, was sie aufgehalten hatte. Vor ihnen versperrte ein Steinschlag den Weg. Ein unbekannter Gorderley stand vor den Felsblöcken und unterhielt sich mit einem ihrer Bewacher, der sie anwies
die Steine fort zu wälzen. Offenbar lagen Reste eines Gefährtes darunter. Sie hatten keine Hilfsmittel, keine Brechstangen oder Hebel und die scharfen Kanten des Felsgesteins rissen ihnen die Hände blutig, doch hier wurde keine Nachlässigkeit geduldet, schnell und sicher traf die Peitsche jeden, der auch nur für einen Atemzug in seinem Bemühen inne hielt.
Stunde um Stunde stemmte sich der Sklave gegen Felsbrocken und schaufelte Geröll zur Seite,die größeren Steine warfen sie in die Schlucht. Endlich hatten sie den zerschmetterten Wagen freigelegt und die Gorderley zogen vorsichtig einen Körper hervor. Es fielen keine Worte, während sie den kaum noch kenntlichen Toten betrachteten.
Der Sklave schleppte einen Brocken an der Gruppe vorbei und ließ ihn über die Kante in den Abgrund fallen.
Kein Aufprall . Er registrierte den Gedanken, ohne ihn zu verstehen und grub weiter. Als er den nächsten Stein ablud, spähte er nach der anderen Seite der Schlucht, erhaschte aber nur einen Ausblick auf schwarze Wände unter einer dunkelgrünen Baumkante.
Kein Fluß, sagte eine Stimme in ihm ohne Zusammenhang.
Die Gorderley hatten inzwischen die Überreste des Wagens untersucht und warfen den Sklaven die zersplitterte Deichsel als Hebel zu. Immer mehr Steine polterten nun die Schlucht hinab, und als der Abend herein brach, war der Weg bis auf einen letzten, übermannshohen Felsen geräumt. Der Sklave stemmte sich mit der Schulter gegen den kalten Stein und spannte die Muskeln an. Ein weiterer Sklave eilte ihm zu Hilfe. Für einem atemlosen Augenblick sah es aus, als könnten sie ihn nicht bewegen, aber dann hob sich der Fels handbreit für handbreit aus der Mulde, die sein Aufprall gedrückt hatte. Schwitzend und keuchend stemmten sie den Block langsam vorwärts. Die Gorderley hatten ihre Unterhaltung unterbrochen und sahen ihnen mit Interesse zu. Mit Hilfe der übrigen Sklaven wäre es ein Leichtes gewesen, die Arbeit zu vollenden, aber die Gorderley hielten sie mit einem Wink ihrer Peitschen zurück. Der Sklave freute sich darüber. Mit wütendem Ehrgeiz wollte er es allein schafften und hörte am verbissenen Atmen seines Kameraden, dass dieser genauso dachte. Unter der Anstrengung zog ein feuriger Streifen Schmerz seinen Rücken hinab, dennoch gab er nicht nach und plötzlich löste sich der Widerstand und sie stolperten mit dem Stein nach vorn.
Galen hörte sich triumphierend aufschreien. Im nächsten Augenblick stürzte der andere Sklave von seinem Schwung getrieben über die Kante. Galen fing sich an einer kleinen Bodenerhebung ab. Einen Herzschlag lang kämpfte er um sein Gleichgewicht. Ein Ruf der Gorderleywachen drang an sein Ohr, ohne dass er ihn wirklich wahrnahm, dann warf er sich nach vorn in das Nichts.
Die Kerzen im Raum waren herunter gebrannt. Einmal hatte der Fürst sie bereits ersetzt, ohne den Waffenmeister in seiner Erzählung zu unterbrechen.
Noch war es draußen vor den Fenstern dunkel, aber schon bald würde das diffuse Licht der beginnenden Dämmerung zwischen die Häuser kriechen. Roman schenkte dem Waffenmeister Wein nach. Dieser trank, gefangen von seiner Erinnerung, ohne es überhaupt zu bemerken. Seine Schilderungen wurden jetzt grober, sprunghafter. Er berichtete von dem tiefen Fall in einen See, von der Strömung, die ihn mitgerissen hatte. Er schilderte die Flucht durch die Berge, erwähnte mit kaum einem Satz den Schürfer, den er zwang, seine Ketten aufzubrechen und anschließend tötete.
Die Suchtrupps der Gorderley hätten ihn vielleicht trotz allem gefunden, wenn er nicht einer Horde Bergbarbaren in die Hände gefallen wäre. Wieder legte man ihm Ketten an und noch einmal verlebte er vier lange Monate unter dem Joch der Sklaverei, bis ihm erneut die Flucht gelang. Es war diese Zeit, die den Fürsten interessiert hätte. Wie konnte ein Mann, kaum bewaffnet und offensichtlich ein entlaufener Sklave ganz Gorderley durchqueren, ohne dass er eingefangen wurde?
Aber er unterbrach Galen nicht mit Fragen, sondern ließ ihn zuende berichten.
„Schließlich erreichte ich Brandai. Bei den Unsterblichen, ich war zehn Jahre verschollen gewesen und niemand erkannte mich. Und dann wollten sie einen Helden aus mir machen.“ Er schüttelte den Kopf, „meine Familie verstand mich nicht mehr, und ich konnte sie nicht mehr verstehen. Es hat lange gedauert, bis ich wieder begann zu leben.... Und nun kommt Ihr.“
Roman betrachtete den Waffenmeister, der mit den letzten Worten aus seiner Erinnerung empor tauchte. Es war weder Anklage noch Bitterkeit in seiner Stimme, keine Spur von Hass gegenüber seinen Peinigern.
Der Fürst konnte nichts anderes, als die Arbeit des Stockmeisters von Witstein bewundern. Selbst nach all diesen Jahren hatte der Waffenmeister noch immer nicht begriffen, wie das System aus Schmerzen, Erniedrigung und Willkür ihn zu einem perfekten Kampfsklaven geformt hatte. Und sein ungebrochener Lebenswille war nicht der Grund seines Entkommens, sondern die Voraussetzung für seine Versklavung gewesen.
Nüchtern dachte er, dass Galen seine erfolgreiche Flucht nur einer Reihe sehr glücklicher Umstände verdankte. Der verfrühte Einfall der Barbaren hatte damals für große Unruhe im Fürstentum gesorgt. Qualinn wurde gehalten und die Barbaren so vernichtend geschlagen, dass sie sich bis heute davon nicht erholt hatten, aber ohne diese Ereignisse wäre das Aufbegehren des Sklaven rechtzeitig bemerkt worden. Es kam gerade bei den Kampfsklaven hin und wieder vor, dass ein scheinbar gezähmter Geist noch einmal erwachte und ein zweites, endgültiges Mal gebrochen werden musste.
Für Roman bestand die Leistung Galens weniger im Entschluss zur Flucht, als in deren erfolgreicher Beendigung. Aber obwohl der Waffenmeister die Verliese von Burg Witstein verlassen hatte, war der Sklave mit ihm nach Brandai gekommen. Neben seinen überragenden Waffenkünsten waren auch seine Zurückhaltung, seine Ruhe, sein Urteilsvermögen, die ungeteilte Aufmerksamkeit, die er seinen jeweiligen Handlungen zumaß, selbst seine Nachsicht gegenüber unfähigen Schülern, erwachsen aus den Lektionen, die der Sklave Galen gelernt hatte.
„Und nun komme ich“, wiederholte der Fürst den letzten Satz.
Galen blickte über die flackernden Flammen in das ernste Gesicht des Gorderley und suchte nach einer Antwort auf seine unausgesprochene Frage.
„Bin ich frei?“, flüsterte er schließlich.
Roman schüttelte den Kopf. „So wie Ihr es wollt? Niemals.“
Galen zuckte zusammen. Lange wartete auf eine Erklärung, aber der Fürst fuhr nur fort, ihn unbewegt anzusehen. Eine Kerze verlosch mit einem leisen Zischen und der Raum versank in grauem Schatten.
„Bleibe ich denn immer ein Sklave?“, fragte er zweifelnd.
„Das ist Eure Entscheidung, nicht meine, Robert Galen.“
Der Waffenmeister blieb reglos sitzen und ließ die Worte in sich eindringen. Als der Fürst in Undidor auftauchte, hatte er sich bereits entschieden, wenn er überhaupt eine wirkliche Entscheidung hatte fällen können. Er war bereit gewesen, sich dem Urteil des Gorderley zu unterwerfen. Aber der Fürst gab ihm diese Chance nicht.
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