Ein Sklave wurde hingerichtet.
Er hatte unvorsichtig einer Wache ins Gesicht geblickt. Nun hing er angekettet in einem Wasserbecken und ruderte verzweifelt mit den Armen. Die Ketten hielten ihn von den Rändern entfernt und er kämpfte darum, nicht unterzugehen. Es war ein langsames Sterben, Stunde um Stunde sahen sie dem Unglücklichen zu. Irgendwann verließen ihn die Kräfte und er tauchte unter. Mehrmals gelang es ihm noch, den Kopf über die Wasseroberfläche zu stoßen, aber schließlich versank er. Das Regiment der Gorderley wirkte sogar hier noch, mit Ausnahme des Keuchens gab er keinen Laut von sich.
Der Sklave bewegte vorsichtig die Zehen, die in der Kälte gefühllos geworden waren. Diese Hinrichtung erinnerte ihn daran, wie leicht man hier starb. Ein falscher Blick, eine unbedachte Bewegung reichte aus, um das Todesurteil zu besiegeln. Es dauerte noch einige Zeit, bis die Wachen die Sklaven zu ihren jeweiligen Verliesen trieben. Er versuchte das Zittern zu unterdrücken und starrte auf den Sand zu seinen Füßen. Galen . Er zuckte zusammen. Es kam so plötzlich, gerade jetzt, dass er fast aufgesehen hätte, um festzustellen, wer das verräterische Wort gesprochen hatte. Zum Glück waren die Gorderley zu beschäftigt, um seine überraschte Bewegung zu sehen. Nun kam auch für seine Gruppe der Befehl und sie liefen dicht gedrängt in den Tunnel.
Als sie wieder in ihrem Verlies lagen, breitete sich das Wort aus. Galen Galen Galen . Als hätte sich eine Schleuse geöffnet, überflutete ihn, was er wochenlang mühsam verdrängt hatte. Er presste die Hand auf den Mund und biss in den Ballen, um nicht zu stöhnen. „Was willst du?“, fragte er flüsternd, „was bei den Unsterblichen willst du?“
Und Galen verschwand und hinterließ Leere. Der Sklave lauschte in sich hinein und sann über seinen letzten Satz nach. Er hatte die Unsterblichen angerufen. Aber die Unsterblichen gehörten nicht zu seiner Welt, die Unsterblichen gehörten nach… Brandai.
Obwohl er sich darüber klar war, dass er aus Brandai stammte, verband er nichts mehr damit. Auch Brandai war fern… Er glitt in einen leichten Dämmerschlaf, aber ein Teil von ihm war hellwach und dachte weiter. Galen war ein Brandai. Galen war ein Ritter gewesen. Er wusste plötzlich, wie es war, ein Ritter zu sein, aber das Gefühl schien zu jemand anderem zu gehören, der ein kleines Stück neben ihm stand.
In den folgenden Wochen geschah es immer wieder, dass er plötzlich durch die Augen eines Fremden sah. Nur Sekundenbruchteile, zu kurz, um etwas wahrzunehmen aber lang genug, um ihn zu beunruhigen. Es war fast ein Wunder, dass die Gorderley nichts bemerkten. Er wurde zweimal ausgepeitscht, aber immer aus anderen, nichtigen Gründen. Und dann holte man sie überhaupt nicht mehr in die Arena.
Der Gong ertönte und die Kerkertüre wurde so rasch aufgerissen, dass die Sklaven kaum rechtzeitig auf die Beine kommen konnten. Der Gang war durch Fackeln hell erleuchtet und der Schein reichte in das Verlies hinein, so dass der Sklave zum ersten Mal den ganzen Raum erkennen konnte. Sofort senkte er den Kopf, denn zwei Gorderley sprangen die Stufen hinab. Sie hielten ihre Kurzschwerter in der rechten und die Stöcke in der linken Hand und der Sklave spürte ihre Nervosität. Es war erlösend, den kurzen Befehl zum Vorwärts gehen zu vernehmen. Er achtete darauf, weder zu schnell noch zu langsam die Stufen hinaufzusteigen und in den Gang zu treten. Nach wenigen Metern stoppte ihn ein weiterer Befehl. Am ganzen Körper angespannt blieb der Sklave stehen und als sich ein Gorderley neben ihn kniete, schloss er hastig die Augen. Dann spürte er die Fußschellen um seine Knöchel. Eine dumpfe Erinnerung jagte ihm durch den Kopf und war wieder fort.
Mit leisem Klirren bewegte sich der Zug durch die unterirdischen Gänge. Der Sklave war die Wege zu den beiden Arenen so unzählige Male gegangen, dass er jede Bodenunebenheit kannte. Er merkte, dass man sie durch andere Tunnel führte, über Treppen und Rampen, bis sie einen Hof erreichten, in dem ein Wagen stand. Zehn Sklaven kletterten auf die Ladefläche, in deren Mitte ein Gerüst aufgebaut war, an dem man ihre Handschellen befestigte. Zu beiden Seiten des Wagens waren Haken angebracht und der Sklave pries sich glücklich zu denen zu gehören, die dort angekettet wurden und laufen durften, denn für ihn befanden sich die Haken in Schulterhöhe, während das Gerüst die Unglücklichen auf dem Wagen zwang, die Arme in Kopfhöhe zu halten, wenn sie nicht aufrecht dem Gerüttel stand halten wollten.
Die Gorderley verloren keine Zeit. Sobald alle Sklaven angekettet waren, rollte der Wagen an. Kaum verließen sie den geschützten Hof, fegte eisiger Wind über sie hinweg. Galen . Kälte. Durst. Wieder blitzte eine Erinnerung auf, die nicht ihm gehörte. Diesmal schenkte er ihr keine Beachtung. Es war lebenswichtig, nicht zu stolpern. Es war lebenswichtig, weiterzulaufen, auch wenn man im Schneematsch ausrutschte. Und wenn es doch geschah, war es entscheidend, den Blick irgendwie auf den Boden zu heften und unter der Peitsche wieder auf die Beine zu kommen.
Nach einigen Stunden hielten sie an. Dankbar sank der Sklave gegen den Wagen. Die Wachen umkreisten zu Pferd den Wagen und ließen misstrauisch die Blicke über die Gruppe gleiten. Auch sie wirkten angespannt und nervös. Der Sklave wunderte sich ein wenig, dass er sich darüber Gedanken machte. Er war ihnen vollkommen ausgeliefert und konnte nur hoffen, dass sein Gehorsam sie davon abhielt, ihn zu töten, alles andere ging ihn nichts an!
Die Pause dauerte nicht lange, aber dass sie überhaupt gehalten hatten, beschäftigte den Sklaven während sie weiter liefen. Obwohl die Gorderley jede Verzögerung unerbittlich bestraften, wollten sie offenbar die Sklaven halbwegs gesund an ihren Zielort bringen. Der Gedanke gab ihm neuen Mut, denn es bedeutete, dass man sie wahrscheinlich nicht zu ihrer Hinrichtung brachte .
Sie rasteten am Abend und die Sklaven durften sich neben dem Wagen nieder legen. Sie schliefen kaum in der Nacht, denn es wurde sehr kalt. In den Verliesen sank die Temperatur selbst in den kältesten Wintermonaten selten soweit, dass sie frieren mussten. Sie versuchten vorsichtig, näher zusammen zu rücken, und als die Wachen nichts dagegen unternahmen, drückten sie sich zitternd aneinander, um so wenig Wärme wie möglich an die Nacht abzugeben.
Noch vor dem Morgengrauen zogen sie weiter. Der Wind ließ nach und die Temperaturen stiegen wieder, dafür setzte leichter Nieselregen ein. Trotzdem kamen sie gut voran. Die Sklaven gewöhnten sich an das Tempo und verfingen sich seltener in den Fußketten, so dass der Tross nicht mehr aufgehalten wurde.
Als sie an diesem Abend rasteten, reichte einer der Wachen ihnen einen Wassersack. Er gestattete jedem Sklaven einige Schlucke, bevor er mit einem leichten Rucken seiner Peitsche andeutete, den Beutel weiter zu geben. Es kam zu keinem Zwischenfall. Sie waren alle zu lange in der Knechtschaft der Gorderley, um in diesem Augenblick Ungehorsam zu riskieren.
Sie liefen zwei weitere Tage, bevor sie ihr Ziel erreichten. Die hohen Mauern einer Stadt warfen ihren Abendschatten, als sie durch das Tor zogen. Das Wetter war beinahe schön, die Sonne stand hinter einem leichten Schleier und gab, wenn doch schon nicht Wärme, immerhin ein sanftes Abendlicht.
In der Stadt drängten sich Menschenmassen und der Sklave wagte es, den Kopf ein wenig zu heben. Sein unbestimmter Eindruck bestätigte sich bei diesem kurzen Blick. Es waren Flüchtlinge darunter. Der Wagen hielt auf einem kleinen Platz. Sie wurden zu einer Gruppe Männer gescheucht, die um einen Brunnen lagerten und kettete sie an. Im Laufe des Abends erreichten weitere Sklavengruppen den Platz. Zwischen ihnen patrouillierten Gorderleykrieger, die wachsam alle Regungen beobachteten, aber als es dämmerte wagte der Sklave dennoch, sich unauffällig umzusehen. Die Häuser ringsum waren alle groß und sehr einheitlich. Gerade Linien, schmale Fenster ohne Verzierungen, nur selten einmal ein Balkon.
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