Das Schreien brach abrupt ab. Galen sah auf den Toten hinab, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Langsam sank er in die Knie und legte das Schwert zu Boden. Seine Hände tasteten nach dem feinkörnigen Sand, der warm durch seine Finger rieselte. Er wusste, dass man ihn bestrafen würde, aber er konnte jetzt einfach nicht sofort zurück in die Dunkelheit des Kerkers.
„Komm her!“
Er wartete noch zwei kostbare Atemzüge lang, bevor er sich erhob, Zeit, für die er würde bezahlen müssen, aber die ihm jeden Schmerz wert schien.
„Komm her!!“ Deutlich schwang Ärger in der Stimme, die sein Leben regierte, aber Galen beeilte sich nicht. Bevor er in den Schatten der Mauern eintauchte, blieb er noch einmal stehen und legte den Kopf in den Nacken. Ein kleiner Vogel schwirrte durch die Arena, landete auf der Holzbrüstung vor den Zuschauerrängen und schaute schwanzwippend herab. Mit einem Triller hüpfte er wieder in die Luft und verschwand zwischen den Mauern. Galen schluckte und ließ es zu, dass sich dieser Augenblick in ihm ausbreitete und ihn ganz und gar erfüllte. Dann erst trat er in den Schatten des Kellerganges. Die Ketten schlossen sich um seine Handgelenke und er spannte die Rückenmuskeln an, aber der erwartete Schlag blieb aus.
Galen spürte die Anwesenheit der Wachen und irgendwo vor ihm stand „die Stimme“, aber nichts geschah. Plötzlich packte ihn panische Angst. Warum schlugen sie ihn nicht? Was hatten sie vor?
Die Stimme sagte etwas, dass Galen nicht verstand und im selben Moment brachte ein einziger Tritt ihn zu Fall. Er wollte sich aufrichten, aber ein harter Hieb auf den Kopf nahm ihm für Sekunden das Bewusstsein und dann schleiften ihn grobe Hände den Gang hinab zu den Verliesen. Schließlich ließen ihn die Wachen fallen. „Aufstehen!“, befahl die Stimme. Er kam taumelnd auf die Beine und erkannte im unruhigen Licht der Fackeln eine kniehohe Mauer, offenbar ein Brunnenschacht. „Nein“, keuchte er und wollte zurückweichen, aber ein Stockhieb stieß ihn voran und im nächsten Augenblick stürzte er über die Kante. Seine linke Hand prallte schmerzhaft auf gegen die Wand, dann fiel er in die Schwärze.
Galen durchschlug die Wasseroberfläche und kam kaum gebremst auf dem Grund auf. Panisch wand er sich um die eigene Achse und rang nach Luft. Sofort drang Wasser in seine Lungen und der Schmerz erfüllte ihn mit Todesangst. Sie wollten ihn ertränken! Wild schlug er um sich und plötzlich war Luft da. Spuckend und hustend gelang es Galen, den Mund über der Wasseroberfläche zu halten. Erst ganz langsam wurde ihm klar, dass er auf dem Boden kniete und er richtete sich auf.
Das Wasser reichte ihm gerade bis zur Hüfte.
Galen zitterte am ganzen Leib. Das Gefühl des sicheren Todes war noch zu frisch und es dauerte lange, bis sich sein keuchender Atem beruhigte. Vorsichtig begann er, sein Gefängnis zu ertasten. Es war stockdunkel und von außen drang kein Geräusch zu ihm herunter. Er konnte nicht einmal erkennen, ob die Wachen den Brunnen abgedeckt hatten.
Der Brunnenschacht hatte vielleicht zweieinhalb Meter Durchmesser und schien direkt in den Felsen geschlagen zu sein, unter seinen prüfenden Fingerspitzen waren keine Fugen oder Mauersteine zu ertasten. Es gab keine Möglichkeit, sich irgendwo festzuhalten, um denn Schacht empor zu klettern, Galen hatte es auch nicht wirklich erwartet.
Als er ein weiteres Mal über die Wände strich, stieß er knapp oberhalb des Wasserspiegels auf eine Kante. Ein Felsstück ragte eine Unterarmlänge in den Brunnen hinein, gerade breit genug, um darauf zu sitzen. Galen schwang sich hinauf und klammerte sich an der Wand fest. Das Wasser tropfte leise von seinen Beinen. Vorsichtig entspannte er sich ein wenig, immer darauf bedacht, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Das Blut pochte in seiner geschwollenen Hand und Galen ließ sich wieder in das Wasser gleiten, um sie zu kühlen. Wahrscheinlich war sie erneut gebrochen.
Die Zeit verging, ohne dass er feststellen konnte, wie lange die Dunkelheit andauerte. Es mochten Stunden sein, aber bald schien seine Haft Tage zu dauern und schließlich vermochte er sich kaum noch daran zu erinnern, wann man ihn in den Brunnen geworfen hatte. Unzählige Male fiel er von der schmalen Kante ins Wasser, wenn er für Minuten einnickte. Er flehte in den Schacht hinauf um Gnade, schrie, bettelte bis er heiser war, aber nicht ein Mal zeigte sich ein Gorderley.
Hunger, Dunkelheit und Nässe krochen in ihn hinein und füllten ihn aus. Anfangs wehrte er sich noch, beschwor die Erinnerung an den hellen Himmel, die wärmende Sonne herauf, rief sich den fröhlichen Triller des Vogels ins Gedächtnis und vertrieb damit für Minuten die lähmende Finsternis. Aber je länger er dort saß, desto mehr verlor die Erinnerung an Farbe und Wärme. Es war nicht so, dass er irgendetwas vergaß, er sah noch immer jedes Detail vor sich, den rauen Stein, den feinkörnigen Sand, die Maserung des Geländers der Brüstung… alles war gegenwärtig. Aber es begann zu verblassen, und schließlich begriff er.
Galen erinnerte sich nicht, jemals geweint zu haben, aber nun traten ihm die Tränen in die Augen. Er ließ sie fließen, während er an der feuchten Wand lehnte und den Fels an der Wange spürte. Mit offenen Augen starrte er in die Dunkelheit und ließ wehrlos die Leere in sich einziehen. Und er stand noch lange dort, als die Tränen versiegt waren und eine salzige Schicht auf seinen Wangen hinterlassen hatten.
Stunden lehnte er im Wasser an der Wand, dann kletterte ein um das andere Mal auf die Kante, um der Nässe für kurze Zeit zu entrinnen. Es kostete ihn keine Überwindung mehr, von dem Wasser trinken, in das er sich entleerte. Er dachte an nichts mehr und erwartete nichts mehr.
Irgendwann erklangen Stimmen und dann erhellte ein schwacher Schein die Dunkelheit. Der Sklave starrte mit gesenktem Kopf auf die Wasseroberfläche. Polternd entrollte sich eine Strickleiter und baumelte schließlich neben ihm. „Komm herauf!“
Die erste Querlatte befand sich in Hüfthöhe. Der Sklave griff nach den Seilen und holte tief Atem, bevor er versuchte, sich mit einem Ruck aus dem Wasser zu schnellen und die erste Stufe zu erreichen. Mit letzter Kraft klemmte er ein Knie zwischen zwei Querhölzer und stützte sich ab, bis der andere Fuß Halt fand. Sein Herz raste vor Anstrengung und seine Arme zitterten so sehr, dass er sich kaum festhalten konnte. Vor seinen Augen wirbelten schwarze Schatten, aber er zögerte keine Sekunde, sich weiter hinauf zuziehen. Seine Schulter schabte an der Wand entlang, während er langsam von einem Tritt zum nächsten kletterte. Es gab nichts mehr in der Welt als diese rauen Seile in seinen Fäusten und die scheinbar meterweit auseinander liegenden Tritte, die er irgendwie bezwang. Er bemerkte kaum, dass es heller um ihn wurde und die Fugen des gemauerten Randes vor ihm auftauchten. Plötzlich hörte die Leiter auf: Er hatte die Kante erreicht. Es war nicht seine eigene Kraft, die ihn auf die Mauer hievte, sondern nur noch der Wille der Stimme . Einige Sekundenbruchteile lag er ausgestreckt dort, dann glitt er herunter und lag auf dem Boden.
„Steh auf“.
Er gehorchte, obwohl er zu schwach war, um zu stehen, zu schwach, um irgendwohin zu gehen, aber er wusste mit einer Sicherheit, die jeden anderen Gedanken ausschloss, dass er dennoch solange hier stehen würde, bis die Stimme ihm etwas anderes befahl.
Minuten vergingen schweigend.
Der Stockmeister und sein Gehilfe betrachteten den Sklaven, der mit gesenktem Kopf und hängenden Armen neben dem Brunnen verharrte. Schließlich nickte der Stockmeister und befahl halblaut. „ Vorwärts!“ Zwei Wachen begleiteten den Sklaven in den Gang.
„Er ist soweit, nicht wahr?“ Der Gehilfe zog die Strickleiter herauf.
Der Stockmeister blickte dem Sklaven nach, der jetzt hinter einer Biegung des Ganges verschwand. „Vielleicht. Wir werden sehen, wie er sich beim nächsten Mondwechseltag macht.“ Er rieb sich die Hände. Man wusste nie, wie sich ein Sklave entwickelte, aber dieser schien die Mühe wert zu sein, ihn gut abzurichten. Trotzdem, rief er sich selbst zurecht, die letzte Probe fehlte noch. Das würde wieder einmal ein interessanter Mondwechseltag werden.
Читать дальше