Als er nach der Flüssigkeit tastete, fühlte er beunruhigt, dass der Wasserspiegel kaum noch die Fingerspitzen bedeckte und er zögerte unwillkürlich. Schnell trank er aus der hohlen Hand, auch wenn dadurch der Fleischgeschmack fort gespült wurde. Dann formte er mit den Händen eine Schale und füllte sie mit Wasser. Es tropfte zwischen seinen Fingern heraus, aber der Mann schlürfte gierig das wenige, was er mitbrachte und Galen holte noch eine zweite Handvoll.
Danach hockte er sich neben den Liegenden und starrte auf ihn hinab. Das Wasser war verschwendet, der Mann würde in den nächsten Stunden sterben. Galen war überrascht, wie wenig ihn das berührte..
„Kamerad.“
Es war nur ein gehauchtes Wort, aber es stach wie ein Blitz in Galens Gedanken. Kamerad ! Dieser Mann war ein Brandai, ein Leidensgenosse, und er hatte ihn geschlagen. Er fühlte, wie er vor Scham rot anlief und beugte sich wieder zum Mund des Sterbenden herab.
„Nimm die Schuhe“, ein röchelnder Husten unterbrach die keuchenden Worte. Besorgt blickte Galen zu dem kleinen hellen Viereck in der Türe, aber alles blieb ruhig. Sanft stützte er den Rücken des Mannes. Unter dem feuchtschweißigen Hemd fühlte er deutlich die Rippenbögen hervortreten. Wie lange mochte er schon nichts mehr gegessen haben?
Nach einem Augenblick inneren Kampfes zog er den Rest seines Fleischstückes hervor, riss einen Streifen ab und wollte ihn dem Mann in den Mund schieben, aber der schüttelte schwach den Kopf.
„Nimm die Schuhe.“
Galen nickte und brachte seinen Mund an das Ohr des Liegenden. „Wie ist Euer Name. Vielleicht kann ich jemandem von Euch berichten, falls ich hier heraus komme.“
Ein Zucken durchlief den Körper, gefolgt von einem scharfen Atemzug. Lautloser Husten schüttelte ihn. Wahrscheinlich würden die anderen Gefangenen den Todkranken umbringen, wenn er die Wachen alarmierte. Eine Hand umschloss Galens Arm. Mehrmals setzte der Brandai zu sprechen an, bevor keuchte: „Nuram. Ich heiße Nuram Berg. Aber das solltest du vergessen. Vergiss alle Namen, wenn du nicht so enden willst. Vergiss!“
Sein Griff wurde schwach und er verstummte. Dann fiel sein Kopf zur Seite.
Galen nahm behutsam seine Hand und hielt sie fest. Es dauerte noch einige Stunden, bis Nuram aufhörte zu atmen, aber er gelangte nicht mehr zu Bewusstsein. Einige Male murmelte er leise unverständliche Wortfetzen und Galen verschloss ihm mit der Hand den Mund, damit er nicht zu laut wurde.
Dann war es vorbei.
Galen blieb noch einen Moment lang still sitzen, bevor er mit den Händen an dem Toten entlang strich. Tatsächlich trug er feste Stiefel. Es war erstaunlich schwierig, sie von den Füßen zu streifen. Galen hielt mehrmals inne, wenn seine Ketten gegeneinander schlugen, aber trotzdem ließ sich nicht verbergen, dass er sich ungewöhnlich stark bewegte. Endlich hatte er den ersten Stiefel herunter und schlüpfte hinein. Ein wenig zu groß; nun, das war besser als umgekehrt. Als der zweite Stiefel vom Fuß des Toten rutschte, sah Galen aus den Augenwinkeln, wie sich ein Schatten näherte.
„Gib sie mir! Ich warte darauf, seit er hereingekommen ist“, zischte eine fordernde Stimme. Der Schatten baute sich breit vor Galen auf, der noch immer am Boden hockte. „Hau ab!“, flüsterte er. Der Fausthieb streifte ihn nur, und er ließ sich nach hinten fallen. Der andere trat einen Schritt vor. Blitzschnell zog Galen die Beine an und rammte sie ihm in den Unterleib. Dann schnellte er auf, sprang an dem Angreifer vorbei in die Mitte des Raumes und blieb stehen, während der andere mit einem Aufschrei zu Boden ging. Schon flog die Türe auf und die Wachen stürmten in den Raum. Galen biss die Zähne zusammen, als ihn der erste Peitschenhieb traf. Er taumelte unter den Schlägen, aber er blieb auf den Beinen bis der Gorderley sich das nächste Opfer suchte. Man hörte nur das dumpfe Klatschen der schweren Lederpeitschen und das Stöhnen unterdrückten Schmerzes während die Wachen auf die Männer einprügelten. Je weiter hinten in der Dunkelheit ein Gefangener stand, desto mehr Hiebe prasselten auf ihn nieder, und Liegende wurden gnadenlos blutig geschlagen, bis sie sich nicht mehr bewegten.
Galens Angreifer hatte es nicht geschafft, rechtzeitig auf die Beine zu kommen und krümmte sich unter der Peitsche, ohne dass ein weiterer Schrei von seinen Lippen kam. Endlich schien den Wachen die Strafe auszureichen und sie verließen die Zelle, die Türe fiel ins Schloss und Dunkelheit legte sich über die schwer atmenden Gefangenen. Galen wartete, bis der Riegel knirschend vorgeschoben wurde, bevor er sich bewegte. Mühsam tastete er sich zur Wand zurück und fiel neben seinem Angreifer auf die Knie. Einen Augenblick rang er nach Luft, dann packte er den anderen an den Haaren und zerrte dessen Kopf an seinen Mund. „Komm mir nie wieder zu nahe“, flüsterte er, „ich kann das hier wiederholen, und ich werde es tun. Willst du herausfinden, wer von uns beiden länger durchhält?“
Der Mann war größer als Galen und hatte sich im Kampf um die Nahrungsrationen erfolgreich genug durchgesetzt, um sich stark zu fühlen. Aber nun deutete eine minimale Bewegung seines Kopfes ein Kopfschütteln an. Galen ließ ihn los und beobachtete, wie er sich langsam kriechend zurückzog.
Der zweite Stiefel lag da, wie er ihn fallen gelassen hatte. Galen ignorierte den Schmerz seiner blutenden Striemen und zog ihn an, bevor er sich in das Stroh zurück sinken ließ. Es war absurd, aber er fühlte eine tiefe Zufriedenheit.
Er konnte sich nicht erinnern, wann er den Überblick über die Tage verloren hatte. Anfangs versuchte er, die Essenszyklen zu zählen, aber schon bald brachte ihn die Eintönigkeit der langen Stunden durcheinander. Es fiel ihm immer schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen. Häufig wachte er aus einem unklaren Dämmerzustand auf und erkannte, dass er sich nicht einmal an das Vergehen der Zeit erinnern konnte.
Hin und wieder wurde das Gleichmaß der Tage unterbrochen, wenn die Wachen außerhalb der üblichen Zeiten eintraten und den einen oder anderen Gefangenen mitnahmen. Sie sahen sie niemals wieder - hingerichtet, sagten die einen, freigekauft hofften andere, wenn die Zurückbleibenden überhaupt miteinander sprachen.
Einmal wurden vier weitere Gefangene in den Kerker gestoßen, einer von ihnen starb schon wenige Zyklen später bei einer Auspeitschung.
Galen bemerkte es teilnahmslos. Die Schmerzen seines aufgeplatzten Rückens wurden ihm so gewohnt, dass er sie kaum noch fühlte und der süßliche Geschmack des Blutes in seinem Mund ließ sich nicht mehr fortspülen. Erstaunlicherweise wurde er nicht schwächer, wie so viele andere. Er stand stets vorn, wenn sich die Türe öffnete, und so konnte er genug von dem kalten Brei ergattern, um zu überleben. Der Hunger bohrte immer, aber Galen ging nicht so weit, sich mehr zu erkämpfen, als er unbedingt brauchte. Trotzdem reichte es nie für alle, und einige der Gefangenen konnten sich abgemagert und ausgemergelt nicht mehr auf den Beinen halten, wenn es zu einer Strafaktion der Wachen kam. Es war ein Teufelskreis: Zu schwach, um sich Nahrung zu erkämpfen, wurden sie noch schwächer. Irgendwann starben sie unter den Peitschenhieben.
Der Gong erklang.
Galen sprang hastig auf uns schüttelte benommen den Kopf. Es war viel zu früh für die Sklaven mit der nächsten Mahlzeit, was geschah jetzt?
Schwacher Lichtschein fiel durch die geöffnete Türe, dann schob sich ein Schatten davor und eine Wache blickte von der Treppe in den Raum. Galens Augen waren auf den Boden geheftet. Der Gorderley kam herab und stieß ihn mit einem Stock an. „Vorwärts!“
Die Angst schnürte ihm die Kehle zu, als er die Treppe hinauf stolperte. Der Gang war von Fackeln mäßig beleuchtet, aber nach der – wochenlangen? - Dunkelheit stach ihm das Licht in die Augen. Mit einem Schlag auf die Schulter trieb ihn die Wache voran, ein weiterer Gorderley trug eine Fackel. Eine lange Steigung endete an einer Treppe, es folgte ein weiterer Gang, dann wurde es heller: Von irgendwoher schien Tageslicht herein. Ein halblauter Befehl ließ Galen anhalten. Einige Minuten geschah nichts. Er fühlte die Anwesenheit mehrerer Männer außerhalb seines Blickfeldes und spürte, wie sich seine Schultern zusammen zogen. Was hatten sie vor? Wollten sie ihn töten?
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