1 ...7 8 9 11 12 13 ...46 In den frühen Morgenstunden, wenn die meisten Krieger Undidors noch schliefen, galoppierte Roman über die taufeuchten Reitbahnen und übte sich im Bogenschießen. Er begann auch, das Werfen der Shuriken vom Pferd zu trainieren. Die scharfkantigen fünfzackigen Sterne waren im Grunde eher eine Nahkampfwaffe, in Brandai zudem völlig ungebräuchlich. Aber es konnte nicht schaden, sie auch aus dem Sattel heraus ins richtige Ziel zu bringen.
In Ermangelung anderer Tätigkeiten übte er sich auch im Gebrauch der Handaxt. Das war eine Waffe der Bergvölker und Roman hatte ihre Wirksamkeit schon oft erlebt. Man hielt sie für keine besonders ehrenhafte Waffe und für seinen Geschmack war sie zu klein und leicht. Aber gerade weil ihr Einsatz einen so ganz anderen Bewegungsrhythmus verlangte als sein Schwert, setzte er seinen Ehrgeiz daran, sie zu beherrschen.
An den Nachmittagen durchstreifte er die Stadt. Immer wieder verblüffte ihn Undidors beinahe unüberschaubare Größe und die faszinierende Unordnung. Der Schmutz stieß ihn ab, genauso wie die in den Vierteln am Fluss herrschende Armut. Niemals hatte er so viele Bettler gesehen, die zudem noch eine erstaunliche Unverfrorenheit an den Tag legten. Nirgendwo in Gorderley gab es soviele elende Gestalten, die müßig herumlungerten oder ganz offen dunklen Geschäften nachgingen. Seinen Augen und Ohren entging nicht, dass es Gegenden in der Hauptstadt des Königs gab, in die sich kein Edler ohne bewaffnete Begleitung wagen durfte.
Wenn er aus den engen Gassen, dem Gestank von Mist, ungelüfteten Stuben, Abwässern und vergammeltem Gemüse auftauchte, zog er sich mit einer gewissen Erleichterung in die saubere Abgeschiedenheit seines Hauses zurück. Es hatte nur weniger Lektionen bedurft, bis Tore gelernt hatte, seinen Wünschen zu entsprechen und die Räume in Ordnung zu halten.
Er machte keine Pläne und erwartete nichts. Wenn er sich gestattete, über den König nachzudenken, wunderte er sich ein wenig, dass dieser ihn bisher nicht weiter über die Verhältnisse in Gorderley ausgefragt hatte. Abgesehen vom regierenden Fürsten Elder von Gorderley, war er der höchste militärische Befehlshaber Gorderleys, und sein Wissen konnte dem König nicht gleichgültig sein, doch bisher blieb er unbehelligt.
Es vergingen zwei Wochen.
Roman stand vor einem großen Gebäude direkt innerhalb der Burgmauer. Eine Weile betrachtete er die umlaufenden Steinfriese in denen Szenen aus der Großen Schlacht dargestellt waren. Die Fenster des Gebäudes lagen im oberen Drittel der Wand und waren von innen mit Tuchbahnen abgedeckt, einige standen offen und es klangen manchmal Wortfetzen und Waffenklirren zu ihm herüber.
Der Eingang befand sich auf der Schmalseite des Gebäudes und wurde von zwei riesigen Löwen aus weißem Marmor bewacht. Der Stein war fleckig und an einigen Stellen zeugten Risse und Löcher vom Alter der Figuren. Dennoch waren die Oberflächen der Löwen blank poliert und kündeten, wie das ganze Haus von sorgfältiger Pflege. Hier lag nirgendwo Unrat herum, die Stufen waren gefegt und in den Winkeln und Bögen der Steinmetzarbeiten lag kein Staubkörnchen.
Roman ließ sich Zeit. Hin und wieder verließ ein Knabe oder Jüngling das Haus, zwei Ritter gingen hinein und kamen nach einiger Zeit wieder heraus. Niemand beachtete den Fürsten, der im Schatten eines Balkons an einer Mauer lehnte, aber er war sich sicher, dass jede seiner Bewegungen genauestens beobachtet wurde. Vielleicht sollte er noch einen Tag warten und ihnen die Gelegenheit geben, sein Interesse zu melden?
Nein, das war unnötig. Der Mann, den er sehen wollte, musste nicht vorbereitet werden.
Die Schatten wurden länger und schon seit einer ganzen Weile klangen keine Kampfgeräusche mehr aus den Fenstern. Roman reckte sich und überquerte den Vorplatz. Als er die Löwen passierte, fragte er sich, wieviele Brandai schon einen dieser mächtigen Steppenjäger gesehen haben mochten. Aus den Kulturlandschaften entlang des Branduin waren sie seit Jahrhunderten vertrieben.
Die Türe schwang lautlos zurück, als er dagegen drückte. Obwohl es später Nachmittag war, lag eine warme Helligkeit in der Halle. Die Tücher, die mittags vor der blendenden Sonne schützten, waren zur Seite gezogen und der vertraute Geruch von Leder, Schweiß und Staub hing in der Luft.
Am Ende der Halle standen zwei große Plattformen, entlang der Wände verliefen Holzbänke und einige Regale. Waffen jeglicher Art lagen darauf oder hingen in Halterungen an den weißgekalkten Mauern.
Der Waffenmeister stand mit dem Rücken zur Türe an einem Ständer mit Schwertern. Obwohl Roman beim Eintreten kein Geräusch verursacht hatte, drehte er sich um. „Fürst Gorderley“, seine Stimme verriet keine Überraschung, „ich habe Euch erwartet.“
Er nahm ein Schwert aus der Halterung und deutete wortlos auf einen Kreis aus dunklerem Holz, der im hellen Holzboden der Halle eine Arena andeutete. Roman zog sein Schwert und trat schnell heran. Es gab keinen förmlichen Beginn, der Waffenmeister griff an, kaum dass er den Kreis betreten hatte. Metall klirrte aufeinander und sein Gegner sprang zurück.
Es folgte ein schneller Schlagabtausch. Schon nach den ersten Minuten erkannte Roman, dass er einem gleichwertigen Gegner gegenüberstand. Der Waffenmeister gab sich keine einzige Blöße, hielt Risiko und Vorsicht in klugem Gleichgewicht und durchschaute Romans Finten, als hätten sie schon hunderte Male miteinander gefochten. Bei aller Übesicht kämpfte er dennoch mit unbegrenztem Einsatz und völliger Hingabe an das Gefecht, mit dem Herz und der Leidenschaft, die nur ein echter Krieger empfinden kann.
Nach einer halben Stunde, in der nur das schnelle Atmen der Männer, das Klirren der Schwerter und ein gelegentlicher Ausruf des Triumphes oder der Überraschung die Stille in der Halle durchbrach, senkte Roman nach einem heftigen Konter sein Schwert und sah seinen Gegner wachsam an. „Ihr fechtet nicht wie ein Brandai. Aber Ihr kämpft zu sehr wie ein Brandai, um ein Gorderley zu sein“, stellte er fest.
Schwer atmend gab der Waffenmeister den Blick zurück und zögerte mit der Antwort, als müsse er sich über etwas klar werden. „Ich lernte das Kämpfen in Gorderley“, sagte er schließlich, und als der Fürst abwartend schwieg fuhr er bitter fort, „ich war achtzehn, als man mich nach der Schlacht von Mancafell gefangen nahm und nach Gorderley brachte. Sie stellten mich in eine Arena und ließen einen verdammten Barbaren auf mich los. Bei Ebelond, die Unsterblichen haben damals meine Hand geführt und ich tötete ihn. Daraufhin ließen sie mich leben, als Kampfsklave.“
Einen Moment hielt er von der Erinnerung gefangen inne, bevor er weiter sprach: „Ich überlebte, weil ich lernte zu kämpfen. Und schließlich floh ich und kehrte in meine Heimat zurück. Nach neun Jahren Sklaverei.“
Mit einem Ruck drehte er sich um, ging zu dem Schwertständer und hängte seine Waffe auf. Dann schritt er langsam auf eine Tür am hinteren Ende der Halle zu. Als er den Fürsten passierte, blickte er starr geradeaus.
Nachdenklich betrachtete Roman die sich entfernende Gestalt. In den Worten des Waffenmeisters blieb vieles ungesagt. Neun Jahre in den Verliesen von Fern oder Burg Witstein zu überleben bedurfte mehr als kriegerischer Fähigkeiten. Es war eine Hölle ohne Aussicht auf Erlösung. Dieser Mann war entkommen und Roman fragte sich, wie er noch die seelische Kraft dafür gehabt haben konnte.
Nun wandte er dem Fürsten von Gorderley den ungeschützten Rücken zu, wissend, dass das Leben eines entlaufenen Sklaven unwiderruflich verwirkt war. Nein! Natürlich war dem Waffenmeister klar, dass Roman ihn hier nicht töten würde. Aber mit jedem langsamen Schritt, mit dem er wehrlos seinen Rücken darbot, gab er dem Fürsten das Recht es zu tun.
Es war erstaunlich: Der Waffenmeister bekleidete eine hohe Stellung am Hof. Er hatte überlebt, wo die meisten anderen Männer, Brandai wie Gorderley, gestorben wären, und dennoch war ein Teil von ihm der Sklave geblieben, zu dem ein gordischer Stockmeister ihn mit achtzehn Jahren gemacht hatte. Und nun überließ er, ohnmächtig gegenüber seiner eigenen Vergangenheit dem Fürsten die Entscheidung.
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