Der Herr, der Mann stand balancierend oben auf der ersten Stufe, er starrte in die menschenwimmelnde Halle hinab, er schien nicht zu wissen, was dies war, wo er war. Er murmelte etwas. Man konnte es nicht verstehen, aber unten wurde es immer stiller. Deutlich klangen jetzt aus dem Café die Geigen der Musiker herüber.
Der Rittmeister von Prackwitz war aus seinem Sessel aufgestanden, ungläubig starrte er auf die Erscheinung.
Die Angestellten des Hotels sahen hinauf, starrten, wollten etwas tun, wußten doch nicht, was …
„Narren!““ schrie der Betrunkene jetzt da oben. „Wahnsinnig! Denken, sie haben den Jagdschein, aber ich dresche sie …!““
Schwächer schrie er noch einmal zu den von unten Starrenden: „Ich dresche euch Idioten!““
Er verlor den Halt. Lustig rief er: „Hoppla!““, sechs Stufen schaffte er noch aufrecht. Dann stürzte er vornüber, und so fiel er die Treppe hinab, den zurückweichenden Gästen vor die Füße.
Da lag er nun, bewegungslos, bewußtlos.
„Wo bringen wir ihn hin?““ fragte der Rittmeister von Prackwitz hastig und faßte ihn schon unter den Achseln.
Plötzlich wimmelte es um den Gefallenen von Angestellten. Die Gäste wurden zurückgedrängt. Unter der Treppe, in dem Gang zu den Wirtschaftsräumen, verschwanden die Träger – mit Studmann und Prackwitz. Die ersten Nachrichten zirkulierten: Junger Deutschamerikaner. Alkohol nicht gewöhnt, Prohibition, Dollarmilliardär, stockbetrunken …
Alles war drei Minuten darauf wieder in Ordnung: schwatzte, langweilte sich, fragte nach Post, telefonierte, sah nach dem Regen.
Als Wolfgang Pagel zwischen sechs und sieben Uhr abends aus dem Kunstgeschäft in der Bellevuestraße trat, regnete es noch immer, wenn auch sachter. Zweifelnd sah er die Straße hinauf und hinunter. Sowohl am Esplanade-Hotel wie beim Rolandsbrunnen hielten Autotaxen, sie hätten ihn schnell genug zu Petra gebracht. Aber ein starrköpfiger Eigensinn verbot ihm, dieses allein für sein Mädchen bestimmte Geld anzugreifen.
Er rückte die alte Feldmütze fester und ging los – in einer halben Stunde konnte er gut und gerne bei Peter sein. Vorhin war er, ohne Geld, mit der Elektrischen sehr schön auf den Potsdamer Platz gekommen, obwohl ihn das Bild jedem Schaffner auffällig machte. Aber der durch das Unwetter gesteigerte abendliche Ansturm auf die Bahnen hatte ihm trotz alledem die Schwarzfahrt möglich gemacht. Jetzt, unfaßbare Millionen in der Tasche, konnte so eine Schwarzfahrt unmöglich gewagt werden – ein Nachlösen, wurde er ertappt, hätte seine Millionen angerissen.
Pagel pfeift zufrieden vor sich hin, während er an der endlosen Gartenmauer des Reichskanzlerpalais einhergeht. Er weiß sehr wohl, daß all diese Überlegungen über Fahrgeld oder kein Fahrgeld blanker Unsinn sind, daß es viel wichtiger (und auch anständiger) wäre, Peter rasch Hilfe zu bringen – aber er zuckt die Achseln.
Er ist wieder einmal der Spieler. Er hat sich vorgenommen, den ganzen Abend, komme, was da wolle, nur Rot zu setzen – und er wird nur Rot setzen, der Teufel hole ihn, die Chancen mögen gegen ihn sein, wie sie wollen! Rot siegt doch! So wird, führt er nur seinen Vorsatz durch, Petra die siebenhundertsechzig Millionen unversehrt in die Hände zu legen, ihre Sache zum guten Ende kommen. Fehlen aber nur zehntausend, nur tausend Mark an dem Gelde, so sind die schwarzen Folgen gar nicht abzusehen!
Vielleicht dämlich, sicher abergläubisch – aber kann man es denn wissen? Dies Leben ist so verzwickt, kommt immer von hintenherum, vereitelt alle Logik, jede genaue Berechnung – besteht da nicht die allergrößte Aussicht, mit Aberglauben, mit dämlichem Rechnen, mit Widersinn und Unverstand ihm auf die Schliche zu kommen –?! Nun also, Wolfgang, es ist alles richtig, und wenn es nicht richtig ist, ist es auch noch so! Ob man mit Logik oder mit Unverstand falsch rechnet, ist das Privatvergnügen jedes einzelnen – er, Wolfgang Pagel, ist für den Unverstand.
So bin ich, so bleibe ich, in Ewigkeit, amen!
Siebenhundertsechzig Millionen! Runde tausend Dollar!! Viertausendzweihundert Friedensmark!!! Ein hübsches Sümmchen in der Abendstunde für einen, der am Mittag noch beim „Onkel““ um einen einzigen Dollar betteln mußte! Für den zwei Schrippen und eine – sehr abgestoßene – Emaillekanne mit Mischkaffee in der Morgenstunde außer dem Bereich alles Möglichen waren!
Pagel ist unter dem Brandenburger Tor angekommen, er möchte hier einen Augenblick Luft holen vor dem ewig niederrinnenden Regen, sich das Gesicht abtrocknen. Aber es ist nicht möglich – unter den Torbogen drängt es sich von Bettlern, Hausierern, Kriegsverletzten. Alle hat – aus den Eingängen des Tiergartens, vom Pariser Platz her – der Regen in diesen Schutz gescheucht, und wenn sich Pagel unter sie stellt, gefährdet er seine Unfähigkeit, nein zu sagen, die Unverletzbarkeit seines heiligen Geldtransportes. So entflieht er sich und dem Flehen der Bettler – hart wie viele Menschen aus Schwäche, nicht aus Härte – und geht wieder hinaus in den Regen.
Er hält – ein wenig gezwungen ist diese Haltung – die Hände sorgfältig über die Taschen seines Waffenrockes. In den Hosentaschen nicht, auch nicht in den Innentaschen, wohl aber in diesen Außentaschen ist sein Geld durch Naßwerden gefährdet. Er vergißt nicht eine Sekunde (was er grade auch denken mag), daß er diese Summe bei sich trägt: siebenhundertsechzig Millionen. Darunter ein Viertel, also zweihundertfünfzig Dollar, in gutem amerikanischem Notenbankpapier, herrliche Papierdollars, das Begehrteste, was es heute gibt in Berlin …
Ich kann die Stadt tanzen lassen dafür heute nacht! denkt Wolfgang und pfeift zufrieden. Der Rest – fünfhundertsiebzig Millionen – ist deutsches Papier, teilweise in unglaublich kleinen Beträgen.
Wie es aber auch zusammengekommen war! Schwer genug hatte es gehalten, dem Kunstfritzen diese Summe heute abend noch zu entreißen! Es sei nicht so viel Geld mehr im Hause, zu den Banken könne man auch nicht mehr schicken, sie seien schon geschlossen. Eine Anzahlung, jawohl, und der Rest morgen früh, neun Uhr dreißig, durch Boten an jedem Fleck in Berlin, den Herrn Pagel nur wünschen würde. Er sei dem Herrn Pagel doch wohl gut für diese Summe, wie?
Und dabei hatte der Händler, ein schwerer, massiger Mann, ziemlich rotes Gesicht und dazu ein Assyrerbart, schwarz, an seinen Wänden entlanggesehen. Mit einem liebevollen Stolz.
Wolfgang war diesem Blick mit seinen Augen gefolgt. Soweit war er nun doch der Sohn seines Vaters, er hatte den Stolz verstanden und auch die Liebe dieses schweren Mannes, der eigentlich gar nicht nach Kunst aussah, zu seinen Bildern.
Drüben, zwei Häuserblocks weiter, an der Potsdamer Straße, verkauften sie im „Sturm““ auch Bilder. Da hatte man manchmal lange mit Peter gestanden und diese Marcs, Kampendoncks, Klees, Noldes angesehen. Manchmal hatte man lachen müssen oder den Kopf schütteln oder schimpfen, denn vieles war einfach wichtigtuerische Frechheit – es waren die Zeiten des Kubismus, des Futurismus, des Expressionismus. Sie klebten Fetzen Zeitungspapier in ihre Bilder und zerbrachen die Welt zu Dreiecken, die man wie ein Puzzlespiel wieder zusammensetzen wollte. Aber manchmal hatte man auch dagestanden, von etwas durchzuckt. Ein Gefühl regte sich, etwas rührte einen an, eine Saite erklang: Dies ist doch etwas? Wird doch etwas Lebendiges geboren aus dieser fauligen Zeit?
Hier aber, bei diesem reichen Manne, der Bilder nur kaufte, wenn sie ihm gefielen, dem nur wenig am Verkauf des Erworbenen lag – hier sah man nicht solche Experimente, keine tastenden Versuche. Hier gab es, schon im Empfangsraum, einen Corot, irgendeinen Weiher, ganz in rötliches Licht getaucht, und röter war doch noch die Mütze des einsamen Fährmannes, der den Kahn vom Ufer mit der Ruderstange abstieß. Es gab einen herrlichen van Gogh: die unendliche Weite grünender und gilbender Felder, mit dem noch viel weiteren Blau des Himmels darüber, das schon schwarz vom aufsteigenden Gewitter zu werden beginnt. Es gab einen Gauguin, mit den sanftbraunen, schönbrüstigen Mädchen; jawohl, auch einen Pointillisten wie Signac, einen kindlich unbeholfenen Mann wie Rousseau, ein stilles Tierstück von Zügel, rot besonnte Kiefern von Leistikow … Aber all das war längst dem Experiment entrückt – Verständnis hatte es geprüft und der Liebe für wert befunden, und nun wurde dies alles geliebt. Diesem Mann konnte man trauen.
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