Madlen Jacobshagen - Plötzlich passt ein Schlüssel
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Lydia
Lydia zog überall die Blicke auf sich, obwohl sie mit ihrer unauffälligen Garderobe ihre weiblichen Reize nur ahnen ließ. Es waren wohl ihre großen blaugrauen Augen, von dichten Wimpern umrahmt, die zusammen mit ihren geschwungenen, meist nur andeutungsweise lächelnden Lippen ihre Anziehungskraft ausmachten. Sie hielt sich mit ihrem Minenspiel so zurück, dass ihr Gesicht makellos, wie gerade geschaffen aussah oder wie ein Foto, das sich nie in einen bewegten Film verwandeln durfte. Das erregte in ihrem Umfeld so viel Neugier, dass sie immer von einigen Frauen oder Männern umringt war, die entdecken wollten, was dahinter steckte. Aber sie kontrollierte sich perfekt, und nach einer Weile ließ meist die Neugier nach. Es gab auch junge Menschen, die ihr partout gefallen und ihr ein positives Urteil abringen wollten. Da sie sehr sparsam damit war, spornte es etliche an, aber mancher hatte auch Angst vor ihren sarkastischen Bemerkungen, zumal sie damit häufig die Lacher auf ihre Seite zog.
Diesmal saß sie inmitten einer Gruppe junger Frauen an einem niedrigen, runden Tisch der Cafeteria. Jede hatte einen Cappuccino vor sich stehen. Das Stimmengemurmel im Raum schwoll in Wellen an und ab, manchmal übertönt vom Blubbern, Zischen und Kratscheln der großen Kaffeemaschine. Ein feiner Kaffeeduft breitete sich aus. Lydia hörte dem Geplauder über die jüngste Produktdesign-Ausstellung zu und warf gelegentlich knappe, kritische Kommentare ein. Sobald sie sprach, richteten sich alle Augen auf sie, und man stimmte ihr eilig zu. Bald ging das Gespräch über zu dem jungen, neuen Hochschullehrer.
„Ich glaube, der ist schon vergeben. Doris, kannst Dir ruhig die Blusen mit dem tiefen Dekolleté sparen“, frotzelte Anja.
„Sei mal ganz ruhig. Dein Augenaufschlag vorhin war auch nicht ganz ohne“, konterte Doris. So ging es weiter.
Lydia ödete es an, dass ihre Kommilitoninnen den großen, schlanken Mann mit seinem aufgesetzten Dauerlächeln so wichtig nahmen und sofort versuchten, ihm zu gefallen. Sie lehnte alle „Schönlinge“ in ihren Designerklamotten ab, weil ihr dann sofort ihr eigener Vater einfiel. Stumm stand sie auf und ging zur Toilette, wartete, bis sie allein in den Räumlichkeiten war, und erbrach sich. Schnell wischte sie sich die Spuren im Gesicht ab und schaute sich nun wohlwollender im Spiegel an. Niemand ging etwas an, was sie sich fast täglich antat. So unauffällig wie möglich gesellte sie sich wieder zu den anderen. Es war für sie so leicht, so zu tun, als gehöre sie dazu.
Als ihre Freundin Sandra sie am Abend auf den neuen Dozenten ansprach, meinte sie nur kurz: „Vergiss ihn!“ Sie griff zu ihrer Kunstmappe und breitete ihre letzten beiden Zeichnungen auf dem Tisch aus. Variationen einer Schale, eine in Schwarz-weiß, die andere in Farben.
„Interessant! Und an welches Material hast Du gedacht?“
„Eine in Olivenholz, die andere in Kunststoff, weiß noch nicht genau.“
„Olivenholz ist hier schwer zu bekommen und teuer“, gab Sandra zu bedenken.
Lydia weihte sie daraufhin in ihre neuesten Pläne ein. Sie habe begonnen, für den Taxischein zu lernen. Die Hälfte des Buches habe sie schon geschafft, jetzt müsse sie nur noch die Straßennamen in 4 Stadtteilen lernen. Natürlich Rechte und Pflichten des Taxifahrers usw. Warum sie das mache? Beide Eltern zahlten ihr regelmäßig je zweihundertfünfzig Euro, aber damit käme sie bei weitem nicht aus. Und die Boutique, in der sie samstags arbeite, zahle auch nicht viel. Taxifahren brächte entschieden mehr, vor allem nachts. Und sie fuhr fort, indem sie mit einer geballten Faust auf den Tisch haute:
„Wenn Du wüsstest, wie leid ich es habe, meine Mutter wegen jedem kleinen Teil um Geld zu bitten. Jedes mal macht sie mir Vorwürfe und überschüttet mich mit ihrer Verachtung. Das will ich mir nicht mehr antun! Ich mache mich jetzt unabhängig, dann werde ich mir auch alles Material kaufen können, was ich benötige.“ Sandra legte besänftigend eine Hand auf ihren Arm.
„Lydia, es tut mir so leid für dich. Ich habe es viel einfacher als Du. Aber sag mal, willst Du wirklich nachts fahren?“
„Das bringt am meisten Geld.“
„Und das hier in der Großstadt! Hast Du keine Angst, nachts als Frau? Ich würde das nie wagen.“
„Mir wird schon nichts passieren“, beendete Lydia entschieden das Gespräch.
Lydia lag an diesem Abend noch lange wach. Ihre Freundin machte sich Sorgen um sie. Und ihre Eltern? Denen war es sicher egal, ob ihr mal was passierte. Hauptsache, sie war hübsch angezogen, hatte tadellose Manieren und war erfolgreich im Studium. Damit sie mit ihr angeben konnten! Vor allem Mama vor ihren Angestellten in ihrem Laden. Sie konnte sich gar nicht mehr an eine Zeit erinnern, in der ihr die Mutter keine Vorhaltungen gemacht hatte. Und an ihren Vater mochte sie gar nicht denken. Der hatte sich schon vier Jahre lang nicht mehr blicken lassen, war angeblich immer geschäftlich so viel unterwegs. Ob er wohl seinen neuen Kindern von seinen Reisen was mitbrachte? überlegte sie. Wie hatte eigentlich Annika die Scheidung verkraftet? Sie war damals ja schon aus dem Haus, hat den ganzen Mist zum Schluss nicht mehr mitgekriegt. Egal. Die könnte sich auch mal wieder melden, fand Lydia, und dann drehte sich das Gedankenkarussell von neuem, bis sie endlich gegen Morgen Schlaf fand.
In ihrer freien Zeit liebte es Lydia, sich mit schönen Dingen zu beschäftigen, sei es beim Besuch von Galerien und Museen oder beim Durchblättern von dicken Kunstbänden. In ihrer kleinen Wohnung stand eine Werkbank aus massivem Holz, auf der sie manchmal stundenlang Farbplättchen zusammenstellte, bis sie die Zusammensetzung gefunden hatte, die für sie stimmig war. Oder sie bog endlos lange an einem Drahtgebilde hin und her, das nie mehr fertig zu werden schien. Ihre Studienfreunde lästerten manchmal über ihr Tun, aber sie ließ sich nicht beirren. Sie lebte für die Schönheit, vor allem die visuelle. Manchmal träumte sie davon, sich eine große Wohnung mit ausgefallenen Ideen ganz nach ihrem Geschmack einrichten zu können. Jede Form und jede Farbe wollte sie auswählen. Sie hatte auch schon angefangen, Zeichnungen von ihrem Traumheim anzufertigen, aber nie gewagt, sie jemandem zu zeigen. Die ästhetischen Fantasien gehörten zu ihrer Innenwelt, die sonst niemanden etwas anging.
Es war überhaupt schwer an sie ranzukommen. Weder ihre verlockend schönen Träume noch ihre grauenvollen Ängste hatte sie bisher jemandem offenbart. Auch Sandra kannte Lydia nur oberflächlich, und ihren beiden männlichen Freunden musste sie immer ein unerreichbares Rätsel bleiben, denn Vertrautheit mit ihnen hätte sie nie ausgehalten. Andreas hatte sich eine Weile um sie bemüht, bis er schließlich resigniert aufgegeben hatte. Mit Thomas war sie erst ein halbes Jahr befreundet. Sie respektierte ihn wegen seines großen Kunstverständnisses, und irgendwann hatten sie auch miteinander geschlafen. Aber das war für Lydia ein Akt ohne jedes Gefühl. Wenn Männer das brauchten, bitte schön! Aber sie spürte ihren Körper fast gar nicht dabei. Thomas hatte das natürlich gemerkt und war selber unsicher geworden. Seither waren sie sich körperlich aus dem Weg gegangen. Keine Berührung, erst recht keine Zärtlichkeit war die unausgesprochene Parole.
Lydia wusste, dass die meisten Frauen in ihrer Umgebung anders auf Erotik und Sex reagierten, aber meistens tat sie dies als billiges Getue zwischen Mann und Frau ab, nicht ihrer würdig. Aber im Laufe der Zeit wurden die Momente immer häufiger, in denen sie sich eingestand, selbst ein Problem mit ihrem Körper zu haben. Tiefe Selbstzweifel fraßen sich in sie hinein. Da war auch noch die Geschichte mit dem Essen. Tagelang zwang sie sich, sehr wenig zu essen, um ihrem Idealgewicht nahezukommen, und dann brach es wieder aus ihr hervor, und sie lieferte sich wahre Fressorgien mit dem elenden Erbrechen im Anschluss. Weder Mutter und Schwester noch Sandra und Thomas ahnten was davon. Sie fühlte sich nach diesen Essattacken derartig mies und hilflos, dass sie sich jedes mal schwor, mehr Kontrolle über ihr Leben zu bekommen. Harte Arbeit und tägliches Jogging halfen ihr dabei. Die schöne, rätselhafte und leistungsstarke Lydia führte wahrlich ein Doppelleben.
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