Ruth Shala
Ein schlechter Geschmack in ihrem Mund
Wien-Krimi
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Inhaltsverzeichnis
Titel Ruth Shala Ein schlechter Geschmack in ihrem Mund Wien-Krimi Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Das Schicksal hatte Ernst Haberkorn im Vorzimmer ereilt. In einem anderen Zimmer seiner überfüllten Wohnung wäre das auch kaum möglich gewesen.
Die aufgebrochene Wohnungstür öffnete sich zu diesem großen dämmrigen Vorraum in Haberkorns Altbauwohnung. Die Jalousien waren in der ganzen Wohnung halb heruntergelassen, sodass es diesig wirkte, obwohl es doch gerade erst Mittag gewesen war. Haberkorn lag auf dem Rücken, gestreckt über unterschiedlich hohe Stapel alter Zeitschriften, Knäuel zerknüllter Wäschestücke und zwei verstaubte Kleinregale. Seine fülligen Wangen mit den roten Flecken bildeten ob der schiefen Lage eine breite Hügellandschaft, seine Augen schauten erschreckt zur Decke. Von oben betrachtet, ließ sich kaum ein Grund für seine Unbeweglichkeit erkennen; die tiefe Kopfwunde, die ihn von den Lebenden zu den Toten befördert hatte, versank in den Haufen undefinierbarer Gegenstände, die unter ihm lagerten. Auffällig waren dagegen die Münzen. Hunderte Centstücke lagen verstreut über seinen Körper und alles rundherum, und dazwischen glitzerten Scherben. Den Beamten blieb einen Moment der Mund offen vor Überraschung. Erst dann kam der große Mordalarm.
Für diese Sache war Beatrix Hellinger zuständig. Eine Stunde später betrat sie die Wohnung.
Beatrix war vor Jahren die erste Frau im Landeskriminalamt Wien gewesen. Wie sie es dorthin geschafft hatte, wusste niemand so ganz genau. Sie ging jetzt auf die fünfzig zu, war mittelgroß, hatte inzwischen fast völlig graue, halblange Haare und wirkte irgendwie unscheinbar. An ihrer Garderobe hätte sich keine Frau der Welt ein Beispiel nehmen wollen. Beatrix hatte vor langer Zeit, damals, als sie den uniformierten Dienst hinter sich gelassen hatte und in die Laufbahn der Kriminalbeamtin eingetreten war, eine Entscheidung getroffen, was ihre Kleidung betraf. Sie kam damals zu dem Schluss, dass sie nur zwei Möglichkeiten für ihren Stil hatte, wenn sie als Frau mit Karriereplänen Erfolg haben wollte: Entweder hätte sie eine perfekte Garderobe mit täglichem Haarspray- und Makeup-Einsatz wählen müssen. Oder sie hatte die Möglichkeit, sich absichtlich auf eine nachlässige Erscheinung zurückzuziehen. Da sie den hohen Arbeitsaufwand der ersten Variante scheute, hatte sie sich also für die zweite Möglichkeit entschieden. Sie besaß eine sorgfältig ausgewählte Kollektion an wenig kleidsamen Stücken, die sich nur mangelhaft miteinander kombinieren ließen und die sie im Abstand weniger Tage wiederkehrend anzog. Es kam vor, dass sie eines dieser Teile, wenn es sich als besonders tragbar zeigte, gleich in zwei oder drei Exemplaren kaufte, denn dann ließ es sich vermeiden, die wenigen Stücke pausenlos waschen zu müssen. An guten Tagen wirkte sie wie eine nette ältere Dame, die mit der Mindestsicherung durchkam, an schlechten Tagen hatte man ihr schon auf der Straße Geldspenden angetragen. Beatrix ließ das kalt. Ihr Stil hatte seit langer Zeit Wirkung gezeigt, denn die Menschen pflegten sie zu unterschätzen. Es gelang ihr bisweilen sogar, geradezu unsichtbar zu werden. Vor drei Jahren hatte sie eine der heißbegehrten Stellen in der Mordkommission ergattert, und sie war sehr zufrieden.
Als Beatrix die Wohnung betrat, war es erstaunlich ruhig, einen Moment schien es, als wäre sie allein mit dem Toten, der doch gerade von allen Seiten untersucht werden sollte. Nachdem sie die Wohnungstür geschlossen hatte, hörte sie aber gedämpfte Stimmen. Sie kamen aus einem der hinteren Zimmer der geräumigen Wohnung, die zugehörigen Personen waren durch all den Müll und die Tausenden Schätze des Ernst Haberkorn verdeckt. Vorsichtig schlängelte Beatrix sich an den Stapeln vorbei und strebte, einige unumgehbare Hindernisse übersteigend, dem hinteren Raum zu. Sie fand zwei Kriminaltechniker aus dem Amt, die stöhnend dabei waren, sämtliche Ecken des überfüllten Raumes zu fotografieren.
„Hey!“, sagte Beatrix kurz.
„Hast du schon einmal so eine Sauerei gesehen?“ sagte Hantl, der Cheftechniker, ohne ihren Gruß zu erwidern. „Können sich die Leute nicht an Orten umbringen lassen, die wir auch irgendwie aufarbeiten können?“
„Ja, jammer du nur. So viele Überstunden hättest du sonst in Jahren nicht ergattern können. Haben wir eine Waffe?“
„Such dir was aus von den dreihundertsechsundzwanzig Sachen, die allein im Vorzimmer zur Verfügung stehen. Aber ich tippe doch auf ein Gurkenglas. Hast du die Scherben gesehen?“
Beatrix bahnte sich vorsichtig den Weg zurück ins Vorzimmer und sah sich um. Sie erkannte schnell, was Hantl meinte: Hinter den Haufen achtlos gestapelter Sachen waren an einigen Wänden des Vorzimmers offene Regale erkennbar. Auf den Regalbrettern standen Gläser, tatsächlich. Gurken waren darin aber nicht, die Gläser waren allesamt mit Münzen gefüllt. Es war schwer abzuschätzen, ob hier auch tatsächlich irgendwelche nennenswerten Beträge zusammenkommen würden, denn es gab ausschließlich kleine Münzen. Die meisten Gläser schienen Cent- und Groschenstücke zu enthalten, einige konnte Beatrix nicht direkt zuordnen, das waren offensichtlich Münzen aus anderen Währungen. Neben dem Fuß der Leiche fand sich ein Blechdeckel mit der Aufschrift „Pusztasalat“. Das zugehörige Glas fehlte, war aber wohl die Quelle all der glitzernden Scherben, die den Tatort erfüllten.
„Das kann ja heiter werden“, sagte Beatrix mehr zu sich selbst und begann zu arbeiten.
Gegen Abend kam Beatrix endlich ins Büro. Es hatte sie viel Zeit gekostet, die Szenerie am Tatort einigermaßen zu erfassen, denn es war nicht einfach, in dem Gewirr an Hunderten Gegenständen, Hausrat, Gurkengläsern, Müll und Papierstapeln das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Schließlich war es ihr gelungen, am Kühlschrank eingeklemmt zwischen Bohnendosen, Büchern, einigen alten Fernbedienungen und unter einem Kamm ein Handy zu finden, das der Tote wahrscheinlich verwendet hatte. Die Kriminaltechniker waren über das Gerät gegangen und hatten ihr nach der Sicherung allfälliger Spuren erlaubt, es zur Auswertung mitzunehmen. Es war ein älteres Modell und musste nicht mit einem Code oder Muster geöffnet werden. Vorsichtig drückte Beatrix so lange herum, bis sie das Anrufsprotokoll fand. Es war jeweils nur der letzte Anruf jedes Kontaktes mit Datum und Uhrzeit gespeichert, aber die Häufigkeit der Telefonkontakte konnte später über den Handyanbieter erhoben werden. Der letzte Anruf war von diesem Handy ausgegangen und wendete sich an eine österreichische Mobilnetznummer, die mit dem Namen „Iwona“ abgespeichert war. Dann fand sich noch ein weiterer Frauenname, Ilse, es gab einen eingehenden Anruf, der eine Woche zurücklag. Vor vier Tagen hatte ein Jürgen Spitek angerufen, zwei Wochen zurück lag ein Anruf an „Hausverwaltung“. Beatrix notierte alle Nummern aus den letzten vier Wochen. Es war eine sehr überschaubare Liste, sodass sie diese Anrufe wenigstens schnell erledigt hätte. Entweder Iwona oder Ilse würde sich wohl als die nächste Angehörige herausstellen.
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