Als sich Julia neben Ellen setzte, fiel die Freundin ihr um den Hals.
»Grüß dich, Julia! Eine Ewigkeit haben wir uns nicht gesehen! Findest du nicht auch? Erzähl schon, wie war es an der Ostsee? Bei mir war's langweilig. Dresden. Mein Vater schleifte uns von einem Museum ins andere. Abends waren wir vielleicht kaputt, kann ich dir sagen ... «
Auch Julia freute sich, Ellen wiederzusehen.
»Beträufelst du dich neuerdings etwa mit Parfüm?« fragte Julia.
»Parfüm? Nur mal probiert. Nur einen Tropfen. - Java!«, flüsterte Ellen. Sie verdrehte ihre großen grauen Augen; dann fuhr sie sich verlegen mit den Händen durch ihr kurzes blondes Haar, das einen von allen Mädchen beneideten Glanz hatte.
»Na, Schönste?«, rief Liebscher jetzt zu Julia. »Ist unsere knusperbraune Südseekönigin wieder im Sachsenlande««
Erst jetzt bemerkte Julia, dass die Jungen sie lächelnd ansahen und die Mädchen neidisch guckten.
Liebscher stellte einen Fuß auf seinen Stuhl, imitierte eine Gitarre in seinen Armen, sah sie herausfordernd an und sang: »Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen trägt Julia seit heut zu ihrem Kokosnusskleid ... «
Affe!, dachte Julia. Und doch fühlte sie sich geschmeichelt. In Liebscher waren fast alle Mädchen der Klasse ein bisschen verliebt. Julia machte sich manchmal vor den anderen Mädchen lustig über ihn und seine Verehrerinnen, sagte, dass Liebscher aussähe wie in einer Filmfabrik produziert. Dann sagte sie unter dem Gekicher der Mädchen Liebschers Merkmale wie ein Rezept auf: »Man nehme einen sportlich schlanken Körper, groß und gut durchwachsen, dazu einen schmalen Kopf, gepflegte schwarze Haare, braune Augen, einen schmalen Mund und zwei Portionen Verstand, schüttele alles dreimal kräftig durcheinander, stelle es eine halbe Stunde in die Sonne - und man hat einen gut aussehenden, gebräunten Werner Liebscher, Klassenbester und Lehrer Rohnkes Lieblingsschüler.«
Liebschers Ständchen wurde durch das Schrillen der Klingel und durch das Eintreten Rohnkes unterbrochen.
Liebscher sprang auf seinen Platz und hatte jetzt nur noch Augen und Ohren für Herrn Rohnke.
Auch alle anderen standen erwartungsvoll. Das achte Schuljahr würde ein entscheidendes Jahr werden.
Julia wollte bis zum Abitur in der Schule bleiben und später Pädagogik studieren. Das war noch ein weiter und mühsamer Weg. Doch sie war überzeugt: Mit Herrn Rohnke war das zu schaffen.
Herr Rohnke lief mit langen energischen Schritten zu seinem Tisch, auf den die Mädchen einen Strauß bunter Astern gestellt hatten.
»Guten Morgen, Freunde!«, sagte der Klassenlehrer mit Bassstimme, die eigentlich gar nicht zu seinem schlanken, durchtrainierten Körper passte.
Die Klasse donnerte ein »Guten Morgen, Herr Rohnke!«, zurück.
Herr Rohnke packte seine Unterlagen aus. Er kam immer sorgfältig vorbereitet zum Unterricht. In seiner heutigen ersten Stunde unterrichtete er Geschichte.
Julia freute sich auf diese Stunde. Geschichte war bei Rohnke besonders interessant und spannend. Es war immer ein Ausflug in die Vergangenheit, bei dem der Lehrer sich und die ganze Klasse in die aufregendsten weltgeschichtlichen Abenteuer stürzte. Als sie die Französische Revolution von 1789/94 behandelt hatten, waren nach dem Unterricht alle erschöpft gewesen, als hätten sie selbst mit Robespierre, Marat, Danton und dem Volk von Paris um Freiheit und Gerechtigkeit gekämpft.
»Legt mal die Bücher noch einen Moment zur Seite«, sagte Herr Rohnke. »Ihr wisst, ich bin kein Freund von großen Vorreden, aber zu Beginn dieses für alle wichtigen Schuljahres will ich euch zwei, drei Sätze sagen.«
Herr Rohnke nahm die Blumen von seinem Tisch, sie störten ihn beim Sprechen. Er liebte nichts Unnützes, nichts, was ihn hätte ablenken können, auf seinem Arbeitsplatz.
Liebscher hatte Herrn Rohnkes Unwillen erkannt, war aufgesprungen, nahm ihm die Blumen ab und sagte laut zu den Mädchen gewandt: »Gemüse!« Er stellte die Blumen in die äußerste Ecke unter ein Fenster.
Herr Rohnke nickte Liebscher zu und schnürte sich den lästigen Binder vom Hals. Für gewöhnlich trug er karierte Sporthemden, dunkle Manchesterhosen, eine abgetragene Wildlederjacke und Sommer wie Winter eine lederne Schildmütze, die sein lichtes Haar vor Hitze und Kälte schützen sollte. Seine Kleidung und sein strenges, eckiges Gesicht mit den prüfenden Augen ließen nicht den Lehrer vermuten. Eher dachte man an einen Jockei oder an einen Kriminalkommissar.
Der Lehrer steckte den Binder in die Tasche seiner Lederjacke, und er lächelte, als er merkte, dass die Klasse amüsiert diesen Vorgang beobachtete.
»Na, dann wollen wir mal«, begann er. »Übrigens - wo ist Pit Janko?«
Die Klasse schwieg.
»Julia, weißt du etwas?« Herr Rohnke sah ungeduldig auf seine Armbanduhr.
Julia überlegte. Sollte sie erzählen, dass Pit wahrscheinlich auf die Kastanie gestiegen war, um von dort seinen Bruder Olaf herunterzuholen? Herr Rohnke würde sich nur wieder über Pit ärgern. Das wollte sie auf jeden Fall vermeiden.
Liebscher sah Julia vorwurfvoll an. Sein Blick befahl: Nun Julia, sag endlich etwas.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Julia atmete auf. Es war Pit, der schmutzig und verschwitzt, mit Laub behangen und eine Kratzwunde im Gesicht, ins Klassenzimmer trat.
Herr Rohnke musterte ihn kurz und sagte: »Du hast wohl deine Ferien im Urwald verbracht?«
Die Klasse lachte.
Pit wollte eine Entschuldigung vorbringen, aber Herr Rohnke forderte ihn auf: »Setz dich. Du störst den Unterricht.«
Julia fand es ungerecht, dass Pit nicht erklären durfte, warum er zu spät kam. Sie hatte das Gefühl, dass es den Lehrer nicht interessierte, was Pit ihm sagen wollte.
Sie knuffte Pit, der eine Reihe vor ihr saß, in den Rücken und flüsterte: »Red doch! Sag schon was! Bist doch nicht zum Spaß auf den Baum gestiegen!«
Julia wusste, es war bei Pit keine Feigheit, dass er sich wortlos auf seinen Platz gesetzt hatte. Es war ihr unverständlich, dass Pit sich oft von seiner Umwelt absperrte.
Pit machte noch einen Versuch zu sprechen, aber Herr Rohnke bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken.
Der Lehrer hatte begonnen, mit Leidenschaft und Begeisterung, die sich bald auf die Klasse übertrugen, seine Unterrichts- und Leistungsziele für die 8b vorzutragen. Den Klassendurchschnitt, der auf 1,8 stand, wollte er auf 1,5 verbessern. Er sprach mit jedem der Schüler, sagte, in welchen Fächern noch mehr als bisher zu tun wäre. Das alles schien für jeden klar und leicht erreichbar. Rohnke demonstrierte es ihnen vor wie eine Mathematikaufgabe, deren anfänglicher Schweregrad bei seiner Erklärung zu einer einfachen Additionsaufgabe zusammenschrumpfte.
Auch Julia war bald von Rohnkes Eifer und Bestimmtheit gefangen, da gab es keinen Zweifel mehr, nur noch klares Ja und Nein, und es machte Spaß, sich seinen Forderungen unterzuordnen.
Jetzt war Herr Rohnke bei Julia angelangt. Sie hörte gespannt, was er ihr zu sagen hatte. »Julia, dein Hauptkampfgebiet wird die Mathematik sein. Halte dich da an Liebscher. Er kann dir viel beibringen. Eine Eins ist drin!«
Herr Rohnke war schon beim nächsten. Julia bemerkte, dass Liebscher sich umdrehte und lächelnd zu ihr sah.
Sie tat, als hätte sie außerhalb der Fenster, hinter dem Schulhof in den Gärten etwas Wichtiges entdeckt. Es machte sie nervös, wenn Liebscher sie so ansah.
Der Name »Janko« fiel.
Pit!, dachte Julia. Was wird Herr Rohnke zu ihm sagen?! Sie blickte auf Pits breite Schultern, über die sich der blauweiß gestreifte Pulli spannte, die sich nun abwehrend nach oben zogen.
Herr Rohnke schaute Pit an. Pit sah an ihm vorbei. Der Lehrer runzelte ärgerlich die Stirn. Er holte geräuschvoll Luft und sagte nur: »Tja, Nun, wir werden sehen ... «
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