Heinz Hoffmann - Nicht eingreifen!

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Die Lebenswege des wohlhabenden Guntram und der Studentin Sabine kreuzen sich bei der Suche nach dem Sinn des Lebens. Ein Mord, mehrere Entführungen, sowie göttliche Einflussnahme begleiten ihren Weg auf skurrile, turbulente und nachdenkliche Weise. Die Geschichte rankt sich um die Frage, ob es wirklich einen Sinn des Lebens gibt, oder ob das Leben eigentlich sinnlos ist.

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Heinz Hoffmann

1

Auf der Suche nach einem Sinn befuhr Guntram von Franckenbergh die Autobahn in Richtung Süden. Es gehörte nicht gerade zu seinen Gewohnheiten, ziellos umherzufahren, und er hätte wissen müssen, dass die Autobahn ihn nicht zwangsläufig einem wirklichen Sinn näherbringen würde, doch irgendwo musste er ja anfangen. Für einen Sinnermittler, der er seit einiger Zeit war, ist es in der Regel völlig belanglos, an welchem Ort er mit seiner Suche beginnt, vor allem, wenn er keinen bestimmten Auftrag erhalten hat und nur ganz allgemein auf der Suche ist. Er hing seinen Gedanken nach, ohne dabei vom Straßenverkehr abgelenkt zu sein. Er überlegte, ob es Sinn machte, den vor ihm fahrenden LKW zu überholen, kam aber zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass es sinnlos wäre, da er weder ein Ziel hatte noch in Eile war. Trotzdem überholte er den Laster und stellte nüchtern für sich fest, dass dies ein sinnloser Überholvorgang gewesen war. So käme er voraussichtlich nicht entscheidend weiter, zumindest nicht hinsichtlich seiner Sinnsuche.

Sein gesamtes Sekretariat befand sich neben ihm auf dem Beifahrersitz. Es bestand aus einem mittelgroßen Koffer, in dem sich ein Laptop und ein Mini-Drucker, sowie verschiedene Schreibutensilien und eine gewisse Menge verschiedenfarbigen Papiers befanden, die allerdings quasi noch nie zum Einsatz gekommen waren. Den finanziellen Erfolg seiner Profession spiegelte sein fünfzehn Jahre alter VW Golf wider, der dem Rost schon seit einigen Jahren nicht mehr gerade viel entgegenzusetzen hatte. Es war zwar ein Viertürer, doch die hinteren Türen wurden bereits durch ein straff gespanntes Seil im Fond des Wagens daran gehindert, sich unkontrolliert zu öffnen. Gleichwohl waren seine finanziellen Verhältnisse nicht unbedingt das, was man als arm bezeichnen konnte.

Als seine Eltern vor zehn Jahren bei einem völlig unnötigen Flugzeugabsturz ums Leben kamen, führte das dazu, dass er als Alleinerbe und Begünstigter ihrer Lebensversicherungen mit knapp fünfundzwanzig Jahren ein recht wohlhabender junger Mann geworden war. Seine Eltern hatten sich gewünscht, dass er Banker würde, doch er hatte sich immer dagegen gewehrt und stattdessen erfolglos Philosophie studiert. Zumindest half ihm sein während des Studiums rudimentär erworbenes Grundwissen dabei, seine Haltung den Eltern gegenüber zu begründen: Er sehe keinen Sinn darin, mit dem Geld anderer Leute zu jonglieren, damit es sich durch Spekulation möglicherweise vermehre. Das wäre eine unwürdige Dienstleistung, die sich die Bank unangemessen vergüten ließe, um danach stets als Gewinner dazustehen. Die Bank gewänne immer. Selbst wenn alles schiefginge. Eine solche Tätigkeit wäre zutiefst unethisch und käme für ihn nicht in Frage. Außerdem wäre der Handel mit Geld ein Geschäft, das keine wirklichen Produkte hervorbringe, sondern nur eine Umverteilung von Vermögenswerten zugunsten derer wäre, die ohnehin schon reich waren. Seine Eltern waren unerschütterlich nachsichtig mit ihm gewesen, sodass er auch mit fast fünfundzwanzig Jahren letztendlich ohne jegliche Berufsausbildung dagestanden hatte. Ihr unglücklicher Tod hatte ihn dann in die Lage versetzt, sein Leben auch ohne die praktische Ausübung eines erlernten Berufes zu fristen. Während seiner Trauerarbeit hatte er sich immerfort mit der Frage nach dem Sinn ihres Todes beschäftigt und war zu keinem wirklich befriedigenden Ergebnis gelangt. Immerhin hatte sich ihr Wunsch erfüllt, dass ihr Sprössling nicht als armer, abgebrochener Philosoph in einer Tonne leben musste und auf die Almosen anderer Leute angewiesen war. Aber auch das machte ihren Tod nicht minder sinnlos. Guntram hatte die letzten zehn Jahre äußerst sparsam von der Substanz seines unverdienten Wohlstandes gelebt, sein Vermögen aber niemandem anvertraut, schon gleich gar nicht einer Bank. Er hatte sich vielmehr vorgenommen, sich selbstständig zu machen und anderen Menschen mit einer Dienstleistung zu helfen. Dabei war er auf eine Honorartätigkeit als Sinnermittler gekommen. Seine Leistung sollte darin bestehen, bei seinen potenziellen Auftraggebern nach einem Sinn ihres Daseins zu suchen. Zu seinem Bedauern hatte er bis dato keinen nennenswerten Erfolg mit seinem Geschäftsmodell erzielt und war nun darauf gekommen, dass er sich dorthin begeben müsste, wo sich das Leben der anderen abspielte. Heute war das eben die Autobahn in Richtung Süden.

Ein Blick auf das Armaturenbrett seines Wagens verriet ihm, dass er dringend seinen Tank auffüllen müsste, denn sein Wagen war immer sehr durstig. Daher steuerte er die nächste Autobahnraststätte an. Bei dieser Gelegenheit würde er auch einen Happen essen. Nachdem er vollgetankt und bezahlt hatte, stellte er seinen Wagen auf dem Parkplatz vor dem angrenzenden Restaurant ab und begab sich in das Innere des Lokals. Dort herrschte eine gewisse Aufregung, die durch einen jungen Mann verursacht wurde, der mit einer Pistole herumfuchtelte und eine ebenso junge Frau laut anbrüllte. Das Lokal war trotz der Mittagszeit nur mäßig besucht, genauer gesagt, befanden sich neben Guntram nur drei weitere Personen sichtbar in dem Restaurant. Eine Bedienung hinter dem Verkaufstresen, der mit einladend lecker anmutenden Speisen hinter sauber glänzenden Glasscheiben lockte, konnte er nicht entdecken. Das Geschrei des jungen Mannes störte ihn unangenehm in seiner Konzentration. Als er sich umwandte, bemerkte er einen weiteren Mann, der den Ausgang blockierte, aber offensichtlich keine Waffe dabeihatte. Diese hätte er aufgrund seiner großen, muskulösen Statur mit einiger Sicherheit auch nicht nötig gehabt. Als Guntram den kräftigen Mann an der Tür ansprach und nach dem Grund der ganzen Aufregung fragte, sagte dieser nur, dass es sich um eine Familiensache handle, die ihn nichts angehe und er sich da raushalten solle. Der Mann machte auch keine Anstalten, ihn passieren zu lassen. Guntram war hungrig und ihm wurde bewusst, dass er, wenn er seinen Hunger noch stillen wollte, die langsam eskalierende Situation beruhigen müsste. Intuitiv spürte er, dass für ihn im Prinzip keine Gefahr bestand. Die Sache drehte sich ganz augenscheinlich ausschließlich um den jungen Mann und die junge Frau. Störend waren eigentlich nur die Pistole in der Hand des jungen Mannes und dessen für Guntram nicht zu verstehendes Geschrei. Jetzt begann auch noch die junge Frau, unverständlich zu keifen. Guntram hob beschwichtigend beide Arme und näherte sich dem jungen Mann von der Seite, sorgsam darauf bedacht, nicht in seine voraussichtliche Schussrichtung zu gelangen. Er sprach die beiden Lärmquellen mit seinem sorgfältig eingeübten Beruhigungston an: „Jetzt erst mal Ruhe. Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr. Was ist denn eigentlich passiert, das dieses unwürdige Theater rechtfertigen könnte?“

Die beiden Kontrahenten verstummten abrupt und sahen ihn mit großem Erstaunen an. Auch der kräftige Mann an der Tür blickte neugierig in seine Richtung. Der junge Mann erlangte als erster seine Fassung wieder und antwortete nunmehr auf deutsch: „Das ist eine Familiensache! Die geht dich nichts an! Halt dich da raus!“

„Das hat mir der freundliche Herr dort an der Tür auch schon gesagt, aber ich konnte beim besten Willen keinen Sinn darin entdecken“, sagte Guntram.

„Wieso Sinn?“, fragte der junge Mann.

„Nun, hinter jeder Handlung muss doch ein Sinn stecken, der sie vernünftigerweise begründet. Ohne einen Sinn ist eine Tat doch völlig sinnlos.“ Guntram war sich nicht sicher, ob es sich bei seinem letzten Satz um eine Tautologie oder ein Oxymoron handelte, denn eine Sache ohne Sinn ist immer sinnlos, aber für die Klärung dieser Frage war jetzt keine Zeit. Der junge Mann sah ihn völlig verständnislos an, woraufhin Guntram sich animiert fühlte, fortzufahren: „Es muss doch einen vernünftigen Grund dafür geben, weshalb Sie sich beide so anschreien. Dabei kann ich ja verstehen, dass Sie eine Waffe auf diese Frau richten, wenn Sie damit Ihren Argumenten einen entscheidenden Nachdruck verleihen wollen, aber einen Sinn darin, dass Sie Ihre Diskussion möglicherweise mit einem gezielten Schuss beenden, kann ich nicht entdecken. Dann wüssten Sie ja gar nicht, welche Gegenargumente diese Frau noch vortragen könnte, um Sie vielleicht umzustimmen.“

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