„Aber das ist doch viel zu viel, liebe Tante!“
„Unsinn! Sarah, du bist so dünn, du hast in der letzten Zeit doch viel zu wenig gegessen, hab ich nicht Recht? Du musst ein bisschen aufgepäppelt werden, nicht wahr, Thomas?“
Thomas nickte mit vollem Mund.
Sarah ergab sich und machte sich über den Kuchenteller her. Wunderbare Scones mit Erdbeerkonfitüre, ein sehr aromatischer Teekuchen… Sie aß, bis sie nicht mehr konnte, und Tante Letty sah lächelnd zu. „Die Konfitüre machen wir selbst ein. Du wirst sie auch beim Frühstück vorfinden.“
Sarah lobte alles aus tiefstem Herzen und bekannte, so satt zu sein, dass sie bis zum Frühstück keinen Bissen mehr herunterbringen könne.
„Das macht gar nichts, mein Kind – bei uns ist ein üppiger Tee oft auch zugleich das Abendessen. Das lassen wir dann gerne ausfallen.“
„Welch ein Glück! Ich könnte einem Abendessen heute wirklich keine Ehre mehr antun.“
Tante Letty lachte. „Ich denke, sobald du dich ein wenig eingewöhnt hast, werden wir dich auch mit den anderen jungen Leuten hier in der Gegend zusammenbringen.“
„Mit Peter, zum Beispiel“, warf Onkel Thomas beiläufig ein. Tante Letty warf ihm einen seltsamen Blick zu, fand Sarah und fragte gehorsam: „Wer ist Peter?“
„Das ist mein Neffe“, erläuterte Onkel Thomas bereitwillig. „Der Sohn meiner Schwester, Peter Dunston. Er besitzt selbst ein kleines Gut in der Nähe von Crowborough, kaum eine Stunde von hier. Er kommt uns recht häufig besuchen. Ein netter junger Mann – und er wird eines Tages auch diesen Besitz hier erben…“ Er lächelte Sarah aufmunternd zu, die ihn etwas verdutzt ansah: Warum wurde ihr dieser Mr. Dunston so warm angepriesen? Und warum runzelte Tante Letty die Stirn? Mochte sie diesen Mr. Dunston nicht? Oder war sie, Sarah, für ihn nicht gut genug? Oder wollte Tante Letty doch, dass sie eine gewisse Trauerzeit einhielt?
Sie konnte darüber aber nicht länger nachsinnen, denn Tante Letty übernahm die weiteren Informationen. „Wir haben hier auch einen noch recht jungen Pfarrer, Mr. Wivern, und seine Schwester Elizabeth. Und im weiteren Umkreis gibt es noch einige bessere Häuser, wo auch junge Leute leben. Für kleinere Tanzereien, Picknicks und Ausflüge ist also stets gesorgt. Ach ja – die Tauntons auf Abbing Priory haben wir ja auch noch…“
„Abbing? Wie in Great Abbington? War das die Abtei, die einmal zum Ort gehört hat?“, erkundigte Sarah sich interessiert.
„Oh, du verstehst etwas von Geschichte?“ Mr. Granger lächelte erfreut.
Das gab Sarah bescheiden zu. Ihr neuer Onkel entpuppte sich daraufhin als wahrer Spezialist für die Vergangenheit von Great Abbington und Umgebung. Während seines kurzen Abrisses der Geschichte der Abtei zeigte Tante Letty sichtliche Zeichen von Ungeduld, denn, wie sich sofort danach zeigte, wollte sie lieber über die Geschichte der Tauntons referieren: „Thomas, bist du jetzt zu Ende? Die Tauntons haben die Abtei also von den Twinings gekauft, denn der alte Twinings war völlig ruiniert und hat sich erschossen. Seine Tochter musste den Besitz aufgeben. Günstigerweise war er nicht erbrechtlich gebunden, du verstehst? Da kam Herbert Taunton und bot ihr genug, um alle Schulden abzulösen. Reich genug ist er ja dafür, allerdings weiß und keiner so genau, womit er dieses Vermögen verdient hat und außerdem ist er – nun - nicht sehr angenehm im Umgang … aber ein einigermaßen akzeptabler Mann, das muss man wohl sagen.“
Sarah verbiss sich ein Lächeln, als sie diese Worte hörte, die nach Landadel klangen und nicht nach der – durchaus bürgerlichen – Frau eines Gutsbesitzers, eines Großbauern also. Hatte dieser Mr. Taunton etwa Gott behüte für dieses Vermögen gearbeitet? Gar in der Industrie? Oder womöglich in der City?
„Und dieser Mr. Taunton hat doch wohl Familie? Du hast von den Tauntons gesprochen?“, kam sie auf Wesentlicheres zurück.
„Oh! Ja, gewiss, er hat zwei Söhne und eine Tochter. Die Tochter, Melissa, dürfte in deinem Alter sein, etwas jünger vielleicht. Ein recht hübsches Mädchen, nur ein wenig – nun - niedergedrückt.“
Sie betrachtete ihre Nichte kritisch. „Andererseits, sobald Mary etwas geschickter geworden ist… ich denke, du könntest mit ihr durchaus mithalten. Die schöneren Augen hast du auf jeden Fall.“
„D-dann bin ich ja beruhigt“, antwortete Sarah mit leicht schwankender Stimme. „Was ist an Melissa Tauntons Augen denn verkehrt?“
„Ach, verkehrt… sie stehen zu eng beieinander, finde ich. Das lässt sie immer so - nun ja, so in sich gekehrt wirken.“
„Die reinste Maus“, wurde Onkel Thomas deutlicher.
„Also bitte, Thomas – das ist doch wohl etwas übertrieben!“
„Das finde ich nicht. Denk doch nur daran, wie sie immerzu hinter ihrem Vater herschleicht! So bringt er sie bestimmt nicht an den Mann.“
„Thomas!“ Der Tadel wirkte nicht recht überzeugend, weil Tante Letty ein Lächeln nicht ganz unterdrücken konnte.
Sarah wurde neugierig auf diese Melissa Taunton – ein armes Ding, so hörte es sich wenigstens an.
„Ist diese Abbey weit von hier entfernt?“
„Ach nein, wir leben hier eigentlich alle recht nahe beieinander – unser Gut, die Abbey, der Pfarrhof gleich hier im Dorf, Mordale Hall, Vance Priory – ach nein, das steht ja leer, seit diesem tragischen Vorfall…“ Tante Letty seufzte halb betrübt und halb animiert.
„Tragischer Vorfall?“ Eine solche versteckte Aufforderung, doch gefälligst nachzufragen und Stichworte zu geben, kannte Sarah von ihren Cousinen, deren Klatsch allerdings meistens nur aus Büchern oder der Zeitung stammte – was erlebten sie auf Glanby Hall denn schon?
Tante Letty reagierte auf das Stichwort wie zu erwarten: „Ach ja…! Das ist jetzt etwa zwei Jahre her, nicht wahr, Thomas?“
„Möglich. Ich weiß es schon gar nicht mehr genau.“
„In der Priory lebten Lord und Lady Vance. Arme Frau – aber was dann geschah, war natürlich dennoch unentschuldbar…“
Tante Letty verstand es wirklich, einen auf die Folter zu spannen!
„Was ist denn damals geschehen?“
„Letty, das ist doch alles nur Klatsch und Tratsch“, mahnte Onkel Thomas, als hätte er sich nicht eben erst recht deutlich über Melissa Taunton geäußert.
Sarah richtete einen festen wissbegierigen Blick auf ihre Tante und es wirkte: Ohne auf die Mahnungen ihres Gemahls zu achten, stürzte Tante Letty sich in die aufregenden Einzelheiten:
„Margaret Vance hatte wirklich kein schönes Leben. Ihre Eltern hatten sie sehr jung an Vance verheiratet, und er war tatsächlich ein ausgesprochen unangenehmer Mensch.“
„Versoffen“, warf Mr. Granger ein.
„Thomas! Welch eine Sprache! Aber es stimmt leider: Lord Vance war wohl recht häufig betrunken – und dann redete er sich ein, seine Gemahlin sei ihm nicht treu, und wurde wohl immer wieder handgreiflich.“ Sie seufzte. „Ab und zu haben wir Margaret Vance mit blauen Flecken oder gar Verbänden gesehen. Einmal hatte sie sich sogar den Arm gebrochen und die ganze Nachbarschaft war überzeugt davon, Vance habe sie eine Treppe hinuntergestoßen. Wie seinerzeit Robert Dudley, nicht wahr? Oh!“
„Und sie ist bei diesem Unmenschen geblieben?“, empörte sich Sarah.
„Wohin hätte sie gehen sollen?“, war die trockene Gegenfrage. „Ihre Eltern hätten ihr sicherlich die Tür gewiesen, denn eine Frau hat bei ihrem Mann auszuharren, nicht wahr?“
Das fand Sarah nun eigentlich nicht, aber sie schwieg lieber.
„Nun, jedenfalls verdächtigte Seine Lordschaft Lady Vance immer wieder unerlaubter Beziehungen zu den verschiedensten Männern in der Gegend.“
„Von Mordale über Taunton bis zu Vances Stallmeister. Schlechter Mensch“, warf Onkel Thomas ein.
Sarah verbiss sich ein Lächeln – die beiden Grangers schienen geübt darin, eine saftige Klatschgeschichte mit verteilten Rollen zu erzählen. Und sie machten das recht hübsch, die Spannung sank nie herab.
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