Sarah nickte. „Das ist der Nachbar, der wegen dieses Duells von allen geschnitten wird?“
„Nun… geschnitten ist vielleicht zu viel gesagt. Natürlich würden wir ihn grüßen, wenn wir ihn den einmal sähen. Abgesehen von den Tauntons natürlich.“
„Warum denn ausgerechnet die Tauntons?“, ließ Sarah sich sofort ablenken.
„Das weiß keiner so genau, aber Mr. Taunton scheint ihn vehement abzulehnen. Nun aber komm, der Lunch müsste gleich fertig sein!“
Sarah enteilte, um sich etwas frisch zu machen, und ärgerte sich. Sie hatte doch eigentlich fragen wollen, wie weit die Nachbarschaft diesen Mordale ignorierte – und jetzt hatte Tante Letty sie erfolgreich auf eine andere Fährte gesetzt!
Frisch frisiert und gewaschen betrat sie kurz darauf das Speisezimmer, wo die Grangers schon am Tisch saßen. Sarah nahm unter Entschuldigungen Platz und ihre Tante fragte, während die Suppe aufgetragen wurde, ob sie später mit ihr zu Mrs. Emmerden kommen wolle – sie brauche doch noch einige Kleider.
Dieser Ansicht war Sarah eigentlich nicht, aber sie hatte in den letzten Tagen schon gelernt, dass Widerspruch zwecklos war.
„Peter hat mir geschrieben und sich zu einem Besuch angekündigt“, bemerkte Mr. Granger, den Suppenlöffel halb erhoben.
„Oh, wie nett“, freute sich seine Gemahlin und lächelte Sarah zu. „Dann hat unsere liebe Nichte doch auch einmal etwas junge Gesellschaft! Hat Peter auch geschrieben, wie lange er bleiben kann?“
„Nein, leider nicht. Aber ich denke, einige Tage werden es schon sein. Er hat auf Oakridge ja einen tüchtigen Verwalter…“
„Vielleicht könnten wir ein Picknick veranstalten“, überlegte Tante Letty, als die Suppe abgeräumt wurde. „Ich bin sicher, die Wiverns und die Tauntons würden auch gerne teilnehmen. Zumindest die junge Generation, nicht wahr? Ob die Anistons wohl immer noch verreist sind…?“
„Es soll regnen“, verdarb Onkel Thomas zu Sarahs stillem Amüsement diese Zukunftspläne. Immerhin war sie noch in Trauer!
„Hoffentlich nicht!“, entsetzte sich Tante Letty.
Es folgte eine Diskussion über die Bedeutung des Regens für Landwirtschaft und gesellschaftliche Ereignisse, während der Sarah stillvergnügt kalten Braten mit frischem Brot und gedämpftem Gemüse verzehrte.
Schließlich wurde sie aber zur Schiedsrichterin aufgerufen und musste dem Gutsherrn Recht geben.
„Du bist einfach viel zu vernünftig“, seufzte ihre Tante in komischer Verzweiflung. „Sehnst du dich denn gar nicht nach etwas Amüsement?“
„Später vielleicht, liebe Tante, aber ich habe doch gerade erst meine Mutter begraben!“ Sie richtete einen vorwurfsvollen Blick auf Mrs. Granger, der sofort Wirkung zeitigte: Diese seufzte kummervoll auf. „Ach ja – die arme Anne – aber du kannst dich doch nicht für alle Ewigkeit in der Stille vergraben!“
„Die Beerdigung liegt noch keine zwei Wochen zurück“, merkte Mr. Granger an, während er den Rinderbraten attackierte, „das ist wohl kaum die Ewigkeit.“
Tante Letty schwieg beleidigt – für fast fünf Minuten.
„Oder einen Ausflug“, sinnierte sie dann mit einem warnenden Blick auf ihren Göttergatten.
„Wohin?“, fragte Sarah interessiert,
„Wie wäre es mit Hever Castle? Sehr hübsch soll es dort sein.“
„Und sehr geschichtsträchtig“, stimmte Sarah zu. „War Hever Castle nicht das Schloss der Familie Boleyn?“
„Nun – äh…“ Mrs. Granger schien leicht verlegen. „Heute gehört es jedenfalls einer anderen Familie“, meinte sie dann munter, aber damit hatte sie keinen Erfolg.
„Anne Boleyn war schon eine sehr unglückliche Frau“, sinnierte Sarah, dieses Mal nicht ablenkbar.
„Sarah! Glaubst du, dieses Thema ist für ein junges Mädchen sehr passend?“
Sarah staunte. „Aber das ist doch Geschichte? Und König Heinrich ist wohl neben Queen Bess die bekannteste Persönlichkeit auf dem englischen Thron. Was daran erscheint dir denn unpassend? Im Übrigen bin ich schließlich kein gar so junges Mädchen mehr. Schon fast eine alte Jungfer…“ Sie lächelte spitzbübisch.
„Umso schlimmer“, grollte Tante Letty. „Du solltest dann umso mehr darauf achten, als unschuldiges junges Mädchen zu erscheinen – du möchtest doch wohl einen achtbaren Gatten finden?“
„Möchte ich das?“, echote Sarah nachdenklich. „Das weiß ich eigentlich gar nicht…“
„Aber jedes junge Ding möchte doch heiraten!“, rief Onkel Thomas, dem angesichts dieser ketzerischen Meinung die Gabel aus der Hand gefallen war.
„Gewiss“, gab Sarah ihm Recht, „aus Angst vor der Zukunft. Nun gut, diese Angst sollte ich wohl auch verspüren. Aber die Erwähnung von Anne Boleyn würde mich doch wohl nicht als lose Person erscheinen lassen?“
„Sarah!“
Sarah gedachte im Stillen dankbar ihrer Eltern, die nie derartig an ihr herumerzogen, sondern sie ermutigt hatten, ihre Ansichten offen auszusprechen.
„Letty, sei nicht so altjüngferlich“, bat Mr. Granger, schon mit einem Blick auf das Dessert, das gerade auf den Tisch gestellt wurde. Er wartete, bis sich das Hausmädchen zurückgezogen hatte, und fuhr fort: „Sarah ist wirklich nicht mehr siebzehn und eine sehr gebildete junge Frau, nach dem, was ich bisher über sie erfahren habe. Ich denke, auch Peter wird sich nicht entsetzen, wenn sie etwas über Anne Boleyn sagt, die doch immerhin eine Zeitlang Königin von England war.“
„Und die Mutter von Königin Elizabeth, die England in eine Seemacht verwandelt hat“, warf Sarah ein, während sie sich mit einer kleinen Portion der süßen Creme bediente.
„Meinst du wirklich, Thomas? Ich möchte ja nur nicht, dass die jungen Herren hier in der Gegend Sarah für – nun – für etwas frei halten.“
„Etwas frei…“ wiederholte Sarah nachdenklich. „Das klingt doch eigentlich sehr hübsch – und doch beschreibt es ein Verhalten, das in der guten Gesellschaft nicht akzeptiert wird. Seltsam, in der Tat.“
„Man kann nicht umhin zu bemerken, dass du bei deinen Eltern doch sehr entfernt von der Gesellschaft aufgewachsen bist, nicht wahr? Haben deine Verwandten denn gar keinen passenden Umgang gepflegt? Dein Onkel ist doch immerhin ein Viscount?“
„Gewiss, allerdings ein recht armer Viscount. Das wenige Geld, das vorhanden ist, wird darauf verwendet, Glanby Hall und die Ländereien wieder etwas ertragreicher zu machen.“
„Vernünftig.“
„Thomas, bitte! Nicht mit vollem Mund!“
„Entschuldige, Letty – aber Bauer bleibt Bauer, daran musst du dich endlich gewöhnen.“
„Du bist kein Bauer, Thomas, du bist ein Gutsbesitzer.“
„Das ist auch nur ein Bauer - mit einem größeren Hof. Uns geht es sehr gut, Sarah, das kann man nicht bestreiten, aber wir sind einfache Leute. Mit einem Viscount können wir nicht mithalten.“
„Das müsst ihr doch auch gar nicht!“, rief Sarah erschrocken. „Ihr seid so viel netter zu mir! Ich wollte natürlich nicht sagen, dass Onkel Victor und Tante Barbara nicht immer recht freundlich waren – und Lavvy und Selly sind wirklich reizende Mädchen. Aber sie hatten doch nun wirklich genügend eigene Sorgen, wenn man bedenkt, wie verschuldet Glanby Hall ist… Cousin Paul rackert sich Tag und Nacht ab, da blieb natürlicherweise für arme Verwandte, die zumeist in der Welt der Antike lebten, nicht viel übrig. Wenn ich dagegen überlege, wie liebevoll ihr euch um mich kümmert… was zählt da schon ein alberner Viscount-Titel?“
„Das ist sehr nett und großzügig von dir“, antwortete Onkel Thomas.
„Von mir?“, quietschte Sarah förmlich auf. „Ihr seid so nett und großzügig, mir bleibt da nur die Dankbarkeit – und ich bin euch von Herzen dankbar. Verwöhnt mich nur nicht zu sehr, ihr Lieben!“
Tante Letty wischte sich ein Rührungstränchen aus dem Augenwinkel und lächelte dann tapfer. „Wir wollen alles tun, damit es dir bei uns gefällt und du vielleicht auch einen netten, passenden Ehemann findest.“
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