Imprint
Familiengeheimnis. Historischer Roman
Catherine St.John
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Copyright: © 2017 R. John 85540 Haar
Cover: Edmund Blair Leighton, Lady in a Garden
ISBN 978-3-746745-57-2
„Muss das sein?“, brummte Lord Lynet angesichts der Schüsseln auf der Dinnertafel. „Wir haben nicht einmal wichtigen Besuch, und trotzdem eine solche Verschwendung?“
„Immerhin sind wir zu viert, da sind vier kleine Gänge, von denen ohnehin niemand satt wird, doch wohl nicht zuviel“, widersprach die Dame des Hauses.
Ihr Mann warf ihr einen missvergnügten Blick zu und sagte nichts mehr; stattdessen zog er die Schüssel mit dem Rinderragout näher zu sich heran und tat sich großzügig auf. Allzu großzügig, fand seine Gemahlin, die aufgrund ihrer vornehmeren Abkunft, wie sie immer noch meinte, auch ein feineres Benehmen gewohnt war. Sie kommentierte sein Verhalten aber auch nicht weiter, sondern ergriff Schüssel und Vorlegelöffel und tat zuerst ihrer Jüngsten, Jane, auf, die ohnehin für ihre fünfzehn Jahre allzu klein und schmal war. Den kläglichen Rest teilte sie zwischen Melly, ihrer älteren Tochter, und sich selbst auf und nahm sich etwas Gemüse dazu.
Jane aß mit gutem Appetit, Melly rührte unlustig auf ihrem Teller herum. Seine Lordschaft verzehrte seine Portion hastig und griff schon vor dem letzten Bissen nach der nächsten Schüssel.
Walters, der mittlerweile fast achtzigjährige Butler, übernahm das Abräumen, obwohl es eigentlich unter seiner Würde war. Aber was sollte er machen? Sollte Ihre Ladyschaft etwa selbst die schmutzigen Teller in die Küche tragen? Oder die beiden jungen Damen? Seine Lordschaft war entweder sehr schlecht dran oder ausgesprochen geizig, denn sonst hätte er doch nicht beide Lakaien entlassen, dazu die Gärtner und fast alle Stallburschen! Nicht, dass in den Ställen noch viel zu tun gewesen wäre… Die Köchin, der Stallmeister und er selbst waren mittlerweile die einzigen Bediensteten auf Schloss Lynet. Im Gesindezimmer diskutierte man also mittlerweile nur noch zu dritt, ob der gnädige Herr bankrott oder geizig war. Er trug die geleerten Schüsseln zur Anrichte und deckte frische Teller auf. Mylady sicherte schließlich ihren Mädchen ein wenig vom Dessert, bevor ihr Gemahl sich über den Löwenanteil hermachte.
Insgeheim wunderte Walters sich – der Viscount aß für drei, aber man sah nichts davon. Sicher ritt er täglich über den Besitz (und das musste recht deprimierend sein, dieser Verfall allenthalben), aber das hielt einen Gentleman in mittleren Jahren doch nicht so gut in Form? Vielleicht litt er an einer Krankheit, die ihn auszehrte?
Dann waren Ihre Ladyschaft und die beiden Töchter aber arm dran, überlegte Walters nicht zum ersten Mal, während er mit jahrzehntelanger Routine abräumte und fragte: „Wäre das dann alles, Mylady?“
Der Viscount bellte: „Den Brandy, Walters!“
„Sehr wohl, Euer Lordschaft.“ Walters verneigte sich und brachte das Gewünschte, während seine Gedanken weiterliefen. Der Besitz war bis auf einen sehr bescheidenen Rest an den Titel gebunden und würde damit wohl an die Krone fallen, wenn der Viscount das Zeitliche segnete, nachdem der junge Mr. Benedict schon vor Jahrzehnten verschwunden war. Da blieb in solch vornehmen Familien eigentlich nur eins – man musste die beiden Mädchen gut verheiraten, damit sie nicht dem Elend preisgegeben würden.
Mylady hob die Tafel auf und verließ, gefolgt von Miss de Lys und Miss Jane, das Speisezimmer. Walters schloss behutsam die Tür hinter ihnen und wandte sich wieder seinem Herrn zu. „Wünschen Sie noch etwas, Mylord?“
Lord Lynet winkte ab und verließ ebenfalls das Speisezimmer, das Brandyglas noch in der Hand.
Walters wandte sich dem halb abgeräumten Dinnertisch zu und sorgte mit routinierten Handgriffen für Ordnung, unterhalten von leisen Klavierklängen aus dem Salon.
Aha, Miss de Lys versuchte sich wieder einmal an dieser verteufelten Haydn-Sonate und in wenigen Minuten würde sie an der Stelle scheitern, an der sie immer scheiterte…
Als er die Dessertteller, die Gläser und die übrigen Reste nach draußen in Richtung Küchenquartier trug, zuckte er tatsächlich kurz zusammen, weil sich Miss de Lys an der üblichen Stelle vergriffen hatte; dann lächelte er mitleidig: Ein nettes Mädchen, aber leider weder besonders hübsch noch lebhaft. Es würde schwer halten, für sie eine annehmbare Partie zu finden, zumal in diesem abgelegenen Winkel von Kent, in dem von der Nähe zur Hauptstadt aber schon gar nichts zu spüren war.
Vielleicht waren die beiden Mädchen aber auch nur so still und – rundheraus gesagt – langweilig, weil Seine Lordschaft sie so häufig kritisierte, und das in sehr liebloser Weise?
Walters seufzte über diesen Gedanken und stellte das Tablett ab. Mrs. Riley lächelte ihm trübsinnig zu. „Nicht das, was wir früher gewöhnt waren, nicht wahr? So wenige Gänge, so kleine Portionen, keinerlei Überreste…“
„Ich bezweifle, dass Ihre Ladyschaft und die jungen Damen auch nur annähernd satt geworden sind.“
„Und Seine Lordschaft hat es sich gut gehen lassen, möchte ich wetten!“, schnaubte die Köchin. „Wo lässt er all das Essen bloß? Wenn ich so viel verdrücken würde, passte ich durch keine Tür mehr!“ Zur Bestätigung klopfte sie sich auf den deutlich gerundeten Bauch unter der gestärkten weißen Schürze.
Walters brummte zustimmend und beschloss, die Damen im Salon nach ihren Wünschen zu fragen.
Dort saß Lady Lynet auf einem Sofa, neben sich den Flickkorb, und griff bei Walters Eintritt hastig nach ihrem Stickrahmen. Auch Jane gab vor, sich mit einem Taschentuch zu beschäftigen, während Miss de Lys vor dem Pianoforte saß und deprimiert auf die Tasten starrte.
„Melly, versuch´s bitte noch einmal! Du weißt doch, dein Vater…“
„Ja, Mama.“ Sie begann wieder zu spielen und vergriff sich dieses Mal schon vor der üblichen Stelle. Ärgerlich ließ sie die Hände flach auf die Tasten fallen und erzeugte eine beeindruckende Dissonanz. „Ich kann nicht! Ich werde dieses entsetzliche Stück niemals fehlerfrei spielen können.“
Ihre Mutter seufzte. „Mein liebes Kind, dein Vater möchte, dass du dich in allen weiblichen Künsten versiert zeigst!“
„Ich kann nicht spielen! Da sticke ich ja noch lieber“, murrte Melinda mit überraschender Aufsässigkeit.
„Du kannst dich ja wenigstens in der Aquarellmalerei versuchen, Melly“, tröstete die kleine Jane ihre große Schwester, „erinnerst du dich an das Geschmiere, das ich gestern angestellt habe?“
Melinda musste kichern. „Sehr eindrucksvoll! Es sah aus wie eine Art Gemüseeintopf.“
„Und dabei sollte es die Landschaft hinter dem Schloss vorstellen“, jammerte Jane in komischer Verzweiflung.
Die Tür wurde aufgerissen und sofort beschäftigten sich alle drei Damen angelegentlich mit feinsten Stickereien; den Flickkorb hatte Mylady mit langjährigem Geschick zwischen zwei Sofakissen geschoben.
„Keine Musik, Melinda?“
Melinda erhob sich schicksalsergeben wieder, aber ihr Vater lächelte breit und winkte ab. „Du kannst morgen weiter üben. Ich habe eine Einladung erhalten!“
Drei Augenpaare gestatteten sich ein vorsichtiges Aufleuchten – vielleicht musste er ja nach London und sie hätten mehrere Tage lang ein ruhiges Leben?
„Es gibt einen Ball, bei den Nortons, in der Nähe von Lynham. Stephen Norton scheint sich verlobt zu haben…“ Er brummte unzufrieden. „Alle Welt verlobt sich, nur meine Tochter ist sich, scheint´s, zu gut dazu?“
Melinda ließ den Kopf hängen.
„Jedenfalls werden wir zu dritt dort erscheinen und du wirst dir Mühe geben, mein Kind, hast du verstanden?“
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