„Na, endlich seid ihr fertig“, begrüßte er sie. „Und du wirst heute gefälligst etwas mehr gesellschaftlichen Schliff zeigen!“, fuhr er Melinda unvermittelt an.
„J-ja, Papa“, stotterte diese.
„Und wehe, du stotterst!“
„N-nein, Papa…“ Melinda war sichtlich den Tränen nahe.
Die Fahrt nach Beech House zu den Nortons dauerte nicht allzu lange und im Wagen herrschte bedrücktes Schweigen.
Melindas Stimmung hob sich erst, als zumindest Lady Norton sie freundlich, geradezu herzlich begrüßte und sie zu Susan und Charlotte führte, die sich vor einem kostbaren gestickten Vorhang aufgestellt hatten, der den kleinen Ballsaal von der Nische mit dem Buffet trennte.
Sir Joshua nahm sich zügig des Viscounts an und Lady Norton, die das Aufatmen der Viscountess durchaus bemerkt hatte, zog diese in ein kurzes Gespräch – bis die nächsten Gäste gemeldet wurden.
Die Familie Wentworth traf ein – Eltern und fünf Töchter, nachdem wenigstens eine seit dem Frühsommer unter der Haube war und nun in Norfolk lebte.
Es folgte die Herzoginwitwe von Ashford mit zwei Söhnen und ihrer Schwiegertochter, was Charlotte Norton ein entrüstetes Schnauben entlockte.
Melinda sah sich interessiert um und studierte die phantastischen Abendroben, mit denen ihre alt-neue rosa Kreation nicht mithalten konnte.
Die zartgrüne Seidentoilette der jungen Lady Simon gefiel ihr am besten, aber natürlich durfte ein junges Mädchen keine Seide tragen…
Auch die vielen Misses Wentworth traten sehr à la mode auf – ihr Vater war offenbar nicht so geizig wie Lord Lynet!
Mittlerweile allerdings wunderte sie sich etwas über die Zusammenstellung der Gästeliste: Bis jetzt gab es acht unverheiratete junge Ladies und gerade einmal einen unverheirateten Herrn – und das war der Herzog, von dem jedermann wusste, dass er nicht mehr heiraten wollte: Hatten Lord Simon und seine Frau nicht bereits einen kleinen Sohn, der das Herzogtum eines Tages erben konnte?
An weiteren Tanzpartnern gab es die Väter (die sich bestimmt bei der erstbesten Gelegenheit um den Kartentisch versammeln würden), Lord Simon und Mr. Norton, der aber doch wohl für seine Braut da sein wollte? Wo steckte diese Braut eigentlich?
Sie wechselte einen Blick mit ihrer Mutter, die ebenso ratlos wirkte.
Die Horburys, die kurz darauf eintrafen, hatten immerhin eine Tochter, nämlich die Braut Annabelle, und zwei Söhne zu bieten – aber damit wurde das Verhältnis zwischen den Damen und Herren auch nicht viel besser.
Melindas Mut sank weiter: Wie sollte sie so mit einem Herrn flirten oder auch nur plaudern, wenn die raren Exemplare von viel anziehenderen Damen mit Beschlag belegt wurden? Wer achtete denn da schon auf sie?
Der Herzog lächelte ihr quer durch den Raum aufmunternd zu und sie gestattete sich ein vorsichtiges Antwortlächeln, um gleich darauf nervös nach ihrem Vater Ausschau zu halten, der in ein Gespräch mit Sir Joshua vertieft schien und gerade eine winzige Prise Tabak zur Nase führte.
Sie wusste nicht recht, ob sie sich freuen sollte, dass er diesen kurzen Austausch von Lächeln nicht bemerkt hatte, oder ob sie es bedauern sollte: So könnte er doch mit ihr zufrieden sein – oder käme er womöglich auf die Idee, sie solle versuchen, den Herzog für sich zu gewinnen? Ein völlig sinnloses Unterfangen, das konnte ihm jeder in der Umgebung erklären!
Schüchtern sah sie sich um und bemerkte, dass Lady Simon, die mit Susan Norton zusammensaß, sie heranwinkte.
„Setzen Sie sich doch zu uns, Miss de Lys!“
„Oh bitte, sagen Sie doch Melinda zu mir. Miss de Lys klingt gar so förmlich.“
„Aber gerne, Mi- Melinda. Dann nennen Sie mich bitte Victoria und dies hier ist Susan.“
Melly lächelte verlegen. „Sie müssen mich für sehr dumm halten, aber ich fürchte mich immer etwas in Gesellschaft.“
„Hier sind Sie unter Freunden, Melinda“, beruhigte Lady Simon – Victoria – sie. „Es geht hier nicht zu wie auf einem dieser Londoner Bälle, wo man höllisch aufpassen muss, keinen Fehler zu machen, um nicht zum Opfer bösen Klatsches zu werden. Hier kann nichts passieren, Sie können in aller Ruhe für Ihre Saison üben.“
„M-meine Saison?“
„Oh“, reagierte Lady Simon etwas betreten, „keine Saison?“
„Nein. Dafür haben wir kein – nun, das ist einfach zu teuer, fürchte ich.“ Sie begleitete ihr Geständnis mit einem scheuen Seitenblick, aber offensichtlich fesselte Sir Joshua immer noch die Aufmerksamkeit ihres Vaters.
Lady Simon runzelte die Stirn. „Ihr Vater ist wohl recht streng?“
Melinda nickte zaghaft. „B-bitte, sagen Sie ihm nicht, dass ich… ich meine, dass wir nicht so viel Geld haben? Er wäre sehr, sehr böse…“
„Dafür können Sie doch nichts!“, erboste sich Susan.
„Ich glaube, er hat Angst vor der Zukunft. Wir haben doch keinen Bruder…“
„Oh. Dann sollten Sie wohl gut heiraten?“
Melinda nickte bedrückt. „Aber bisher hat sich niemand für mich interessiert. Nun, ich bin nicht hübsch und habe natürlich auch keine Mitgift, also darf ich mich wohl nicht wundern. Und meine kleine Schwester ist zwar hübscher, aber sie wird es auch nicht besser treffen, fürchte ich – aber Sie sagen nichts weiter?“
Beide Damen versprachen es voller Mitgefühl. „Dann ist eine Veranstaltung wie diese hier – entschuldige, Susan – aber nicht gerade gut geeignet. Oder könntest du deinen künftigen Schwager anbieten?“
„John? Vergiss es. Verzeihen Sie, Melinda, aber ich vermute, John hat ein Auge auf Sophia Wentworths jüngere Schwester Hester geworfen. Aber: psst! John hasst es, wenn ich über ihn klatsche. Ich möchte Stephen und Annabelle keinen Ärger machen.“
„Und der Captain kommt auch nicht in Frage?“
Susan schüttelte betrübt den Kopf. „Er hat eine Braut oben in Yorkshire, wo er stationiert ist. Ich denke aber, dass er bald den Abschied nimmt. In Friedenszeiten, sagt er, ist die Armee eher langweilig. Ja, mehr Junggesellen haben wir hier gar nicht anzubieten. Die Party ist wohl eher ein Familien- und Nachbarschaftsfest.“
„Ich finde es trotzdem sehr schön hier“, versicherte Melinda schüchtern.
„Genießen Sie einfach den Abend“, schlug Susan freundlich vor. Melinda versprach dies und erhob sich, um sich zu ihrer Mutter zu gesellen, die sich gerade mit der Herzoginwitwe unterhielt.
Dort knickste sie ehrerbietig und lauschte dem harmlosen Geplauder der beiden Damen, bis munteres Klavierspiel erklang.
„Ah!“, freute sich die Herzoginwitwe, „Sophia Wentworth ist also die erste, die uns mit etwas Musik erfreut. Und höre ich recht – ein Walzer? Das wird die Jugend erfreuen!“
Lady Lynet stimmte etwas bedrückt zu und streifte ihre verlegene Tochter mit einem Seitenblick.
Die ersten auf der Tanzfläche waren Lord Simon und seine Frau, dann folgten Stephen Norton und Miss Horbury. Melinda beobachtete die beiden Paare, die sich im Walzertakt drehten, miteinander plauderten und sich anlächelten. Es schien sich tatsächlich um Verbindungen aus Liebe zu handeln… wie romantisch! Wie in den wenigen Romanen, die sie immer wieder las, weil sie sich keine neuen leisten konnte und es in der näheren Umgebung auch keine Leihbibliothek gab.
Captain Horbury führte schließlich Susan Norton aufs Parkett und John Horbury bat Hester Wentworth um den nächsten Tanz.
Sophia Wentworth spielte drei Walzer und zwei Ländler, dann erhob sie sich und beorderte ihre Schwester ans Piano, um selbst tanzen zu können.
Melinda stand immer noch am Rand und betrachtete sich die Tänzer fasziniert – diese Bewegungen! Die ineinander fließenden Farben! Vor allem die prächtige Uniform des Captains war ausgesprochen dekorativ… und die wunderbare Musik.
„Miss de Lys? Würden Sie mir die Ehre des nächsten Tanzes erweisen?“
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