Der Viscount schnaubte. „Darüber bin ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig, Norton.“
„Dann halte ich es für besser, wenn Sie sich jetzt entschuldigen und unser Haus verlassen. Lady Lynet und Miss de Lys sind uns natürlich weiterhin herzlich willkommen.“
„Wir gehen alle – und zwar sofort!“ Ihr Vater packte Melly am Handgelenk, herrschte seine Frau an, ihm gefälligst zu folgen, und verließ den Ballsaal, ohne sich von anderen Gästen zu verabschieden.
„Max!“, flehte seine Frau in der Eingangshalle, „du machst uns vor der ganzen Gegend unmöglich! Wie sollen die Mädchen denn so jemals Männer finden?“
„Wozu denn noch, wenn sie sich dabei so dumm anstellen? Los jetzt! Unseren Wagen!“, herrschte er den Lakaien vor dem Portal an und fast sofort rollte die ältliche Kutsche mit den zwei (nicht ganz gleichfarbigen) Braunen heran. Lynet schubste seine Tochter in den Wagen, stieg sofort hinterher und zog seine Frau an der Hand hinein.
„Ich gebe mir die größte Mühe, für das dumme Ding“ – er wies mit dem Kinn auf die lautlos weinende Melinda – „eine wirklich gute Partie zu arrangieren und was tut sie? Ruiniert alles!“
Er packte sie hart am Oberarm und schüttelte sie. „Was hast du dir dabei gedacht, he?“
Melly weinte noch etwas heftiger, antwortete aber nicht. Das tat dafür ihre Mutter: „Max, wovon sprichst du denn nur? Welche gute Partie hätte das denn werden sollen – auf diesem Ball?“
„Weiber!“, stöhnte der Viscount ungalant. „Wer schon? Ashford natürlich!“
„Der Herzog? Aber der verkündet doch immer, dass er nie mehr heiraten wird! Sein Bruder ist sein Erbe, jeder weiß das. Was hat dich auf die Idee gebracht, dass er Melly heiraten könnte?“
„Mein Gott, Weib! Doch nicht freiwillig! Er hätte Melly in der Bibliothek getroffen, sie wäre kompromittiert gewesen, ich wäre hinzugekommen, er hätte sie heiraten müssen. So weit ist er doch wohl ein Gentleman?“
Im Gegensatz zu dem hier anwesenden Herrn, dachte Lady Lynet wütend.
Melly schluckte. „Aber Papa, der Herzog war nicht in der Bibliothek! Niemand war dort! Und der Mann an der Tür ist auch nicht hereingekommen, anscheinend hat ihn jemand aufgehalten und er hat die Tür wieder geschlossen. Was habe ich also falsch gemacht?“
„Sei endlich still!“, fuhr der Viscount sie an. „Alles ist falsch an dir, dein erbärmliches Aussehen, deine Langweiligkeit, deine Unfähigkeit, einen Mann für dich zu gewinnen! Dann wirst du eben Küchenmädchen, wenn ich einmal nicht mehr bin – denn erben wirst du nichts. Keinen Penny!“, bekräftigte er. Er wartete auf Widerspruch des Weibsvolks, aber es kam nichts mehr.
„Oder ich verheirate dich an den erstbesten Kerl, der vorbeikommt“, überlegte er.
Besser als weiter bei einem solchen Vater zu leben, dachte Melly trotzig, hütete sich aber, dies laut zu äußern.
„Noch einen Brandy?“, fragte Edmund, der jüngste Sohn des Earl of Rodham. Sein Gegenüber bedankte sich, wirkte aber geistesabwesend.
„Und du fährst morgen wirklich aufs Land, Seb? Wozu bloß, vor dem Ende der Saison? Für die Jagd hast du doch ohnehin kein Faible?“
Sebastian Herrion, der elfte Baron Hertwood, zuckte die Achseln und genehmigte sich einen kleinen Schluck. „Sehr guter Tropfen, das. Alte Schmuggelware, was?“
„Durchaus vorstellbar, wenn man an meinen alten Herrn denkt“, grinste der Gastgeber. „Aber jetzt sag schon – was zum Henker willst du in der Wildnis von Kent?“
„Wildnis? Dazu ist London dann wohl doch zu nahe. Ich brauche einfach ein paar Tage Abstand von London.“
„Nicht sehr überzeugend, Seb. Ach – jetzt weiß ich´s – du suchst eine Frau! Aber zum Henker, London ist voll von wunderschönen Mädchen, reich und vornehm, dazu musst du doch nicht zwischen Misthaufen und Weidezäunen suchen!“
„Edmund, hör auf damit, du gehst mir auf die Nerven.“
Tatsächlich ließ Lord Edmund Wyley von diesem Thema ab. Er kannte seinen Freund, der zwar meistens sehr gelassen und mit Humor auf freundschaftlichen Spott reagierte, aber durchaus deutlich machen konnte, wo für ihn die Grenze lag. Ein im Grunde ernster Mann. Vernünftig, ohne Neigung zu Exzessen. Sehr zuverlässig. Ein guter Freund, sowohl für Edmund selbst als auch für Lucas und Ben.
„Dann bleibt mir wohl nichts, als dir gute Reise zu wünschen und das Thema zu wechseln?“
„Ganz recht. Sehr klug von dir. Hast du von Anna gehört?“
„Oh ja. Gerüchten zufolge ist bereits der Ersatzerbe auf dem Weg. Offenbar kommt sie mit ihrem William gut zurecht. Meine Mutter ist schon ganz selig. Dafür wirft sie Richard zurzeit sehr strenge Blicke zu.“
Richard, der älteste Sohn und Erbe des Earls, war seit Jahren verheiratet und bereits Vater von drei Töchtern.
„Er soll wohl endlich einen Erben zeugen?“
„Besser zwei, du kennst das ja. Und für den zweiten hätten wir natürlich noch den Besitz im Norden.“
Sebastian nickte gedankenvoll. Diese Überlegungen passten verblüffend gut zu seinen eigenen Plänen.
„Wie geht es denn deiner Familie?“, fragte Edmund nun zurück.
„Viel Familie habe ich ja nun nicht mehr“, war die trübsinnige Antwort. Sebastians ältere Schwester war vor wenigen Jahren mit ihrem Gemahl bei einem Schiffbruch im Kanal ums Leben gekommen. Ihr kleiner Sohn lebte nun bei seiner jüngeren Schwester Cecilia in Berkshire.
„Aber ich werde Cecilia und den kleinen Paul besuchen. Wenn ich ohnehin in Kent bin, ist es ja nur noch ein Katzensprung…“
Verflixt, er hätte diesen Besuch von vorneherein als Grund vorschieben sollen! Und Edmund grinste ihn so wissend an, als könnte er seine Gedanken lesen…
Energisch wechselte er das Thema und kritisierte die Politik Lord Liverpools.
Am nächsten Morgen bestieg er seinen Phaeton, vor dem vier Graue schon unruhig tänzelten, nahm die Zügel, während sein Groom hinten aufstieg und sich seinen Platz neben dem Mantelsack suchte, und gab einen schnalzenden Laut von sich. Butler, Kammerdiener und Stallknecht sahen voller Bewunderung zu, wie präzise Seine Lordschaft die enge Kurve auf die Straße hinaus nahm, und kehrten dann ins Haus zurück, wo Benton, der Diener, seinem Kummer wortreich Ausdruck verlieh: „Wer wird seine Garderobe in Ordnung halten? Seine Stiefel polieren? Seine Krawatte binden? Wie soll er ohne mich nur angemessen auftreten? Was wird man von ihm denken?“
Mick, der Stallknecht, schnaubte. „Als ob Seine Lordschaft zu dämlich wäre, sich selbst anzukleiden! Kriegen Sie sich bloß wieder ein, Benton.“
Der Butler räusperte sich. „Seine Lordschaft wird Freunde besuchen, dort wird man sich schon angemessen um ihn kümmern können. Und – Mick, wer hat dich eigentlich geheißen, ins Haus zu kommen?“
Mick verbeugte sich und kehrte in übler Laune in die Stallungen zurück. Barry durfte immer mit, wenn der Lord verreiste – und er? Er saß hier und wurde von den steifen Gestalten im Haus von oben herab behandelt! Na, so war´s wohl immer… hoffentlich hatte er etwas Stroh und Pferdemist in der Halle auf dem spiegelblanken Marmorboden verloren…
Am frühen Abend rollte der Wagen vor das Portal eines stattlichen Landhauses in der Nähe von Schloss Lynham, und zwei Brüder traten aus dem Haus, um ihn herzlich zu begrüßen.
Sebastian sprang vom Kutschbock, warf Barry die Zügel zu und klopfte dem Captain und John Horbury herzlich auf die Schulter.
„Wir haben es bis eben kaum zu glauben gewagt, dass du dich tatsächlich wieder einmal hierher wagst“, meinte John dann, mit dem er schon die Schule besucht hatte.
„Nun, im Moment habe ich tatsächlich etwas freie Zeit. In einigen Tagen muss ich allerdings wieder einmal ausführlich auf Herrion nach dem Rechten sehen. Und Cec besuchen. Ihr liegt ganz wunderbar auf dem Weg nach Berkshire.“
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