Was hatte er erwartet? Etwa Benoît auf Anhieb zu finden? Paris war eine Großstadt, eine Metropole, kein Flecken auf der schwäbischen Alb, Häuschen gerade genug an der Zahl, um den Flecken zu einem Dorf zu machen. Zu einem Dorf mit achthunderteinunddreißig Einheimischen, die allesamt miteinander verwandt waren, mit Dorfschule samt Lehrer und seiner Familie. Dorfstraße Nr. 12, dort war er aufgewachsen, Haus Nr. 10 die Kirche, Nr. 12 die Schule, gleichzeitig das Haus des Lehrers. In der Heimat seiner Kindheit wäre es kein Problem gewesen Benoît zu finden. Fast musste Jo schmunzeln bei diesem Gedanken. Fast.
»Morgen wieder«, munterte Jo sich selbst auf, vernahm eine grummelige Stimme die ihn an ganz profane, menschliche Grundbedürfnisse erinnerte. Der Reiseführer pries einen Imbiss ganz in der Nähe in den höchsten Tönen an. Die lange Schlange Wartender schien ihm recht zu geben. Jo reihte sich geduldig in die Warteschlange, eine gute halbe Stunde später lobend in die Fangemeinde. In den Straßen des Montmartre wurde der Vorhang für den vierten Akt hochgezogen. Die Läden und Boutiquen leerten sich, deren Besitzer ließen die Rollgitter herunter, verriegelten die Schlösser und begaben sich in eine der ungezählten Bars, wo sich die Hetze des Tages so wundervoll in einem Glas Pastis auflösen ließ. In öligen Schlieren kreiste des Tages Hast im Glas - erst schnell, dann langsamer, letztlich träge, bevor sie sich gänzlich in einer flüssigen, stark nach Anis duftende Wolke verflüchtigte. Der Abend war bereitet, die Nacht konnte kommen. Nach fremden Gewürzen dufteten sie, nach scharf Gebratenem, nach Öl, nach Fisch und frischem Gemüse. Ansteckende Fröhlichkeit, die Lust am Leben füllte Straßen und Gassen, Stimmen und Musik schwirrten durcheinander, verwoben sich zu einem Netz, in das man sich fallen lassen konnte, dem schwerlich zu entrinnen war, von dem Jo sich gern gefangen nehmen, die muffigen Gedanken zerstreuen ließ. Seit vier Tagen sprach er ausschließlich mit einem Partner, dessen Gesprächen er mittlerweile reichlich überdrüssig war: sich selbst.
Ziellos stromerte er durch die Altstadtgassen, immer der Nase nach. Unversehens verfing sich ein süßlich-schwerer Duft darin. Eindeutig ein Parfum, ein Damenduft, elegant und markant und exklusiv, so exklusiv wie dessen Trägerin.
Ein Spiel. Ein Spiel, aus auf- und abtauchen, aus führen und geführt werden, aus streifenden Blicken und Gesten, aus unschuldigen Andeutungen, das Spiel der Verführung. Einige zeitlang währte dieses Spiel, führte von übervollen Straßen in zunehmend menschenleere, von pulsierenden Boulevards in verschlafene Ruen, von taghellem Schein in das schummrige Zwielicht einer Passage hinein, bevor es an deren Ende endete. Eben noch war die Galerie erfüllt vom Klang ihrer Schritte, dem luftig leichten Gang auf hohen Hacken. Nun war sie verschwunden. Jo stand im Licht des Abends, suchte die Rue ab, sie war verschwunden, war wie vom Erdboden verschluckt, spurlos, hatte ihm nur den Klang ihres Gangs zurückgelassen.
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