1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 »Nun sitze ich hier und warte, dass es endlich spät genug ist für den zweiten Versuch«, sagte Jo und seine Berichterstattung war beendet. Von Benoît’s überschäumender Begeisterung war nichts mehr zu spüren, sie schien sich im Gang der Erzählung verloren zu haben. Wieder hatte sich das Kaleidoskop gedreht, wieder saß ein Anderer neben Jo. Einer, dem irgend etwas eine Unwucht in die Gedanken geschlagen hatte, dessen Freude wie verflogen war, der mit seinem Stock Zeichen in den Staub malte. Ohne konkrete Form, ohne tieferen Sinn.
»Haben Sie keine Angst vor dem was Sie erfahren könnten?«
»Oh doch. Mehrfach habe ich mich gefragt, ob es nicht besser wäre einfach nach Hause zu fahren und so zu tun, als wäre alles nur ein Traum gewesen - nichts weiter als ein schöner Traum, der ein schöner Traum bleiben soll.«
Dann hockten sie schweigend nebeneinander und hingen ihren Gedanken nach. Minutenlang. Jeder für sich allein und doch irgendwie gemeinsam. Einem unbedarft vorbeigehenden Passanten mochte es scheinen, als hätten sie jahrelang Übung in dieser Kunstfertigkeit.
»Seltsam, wie sonderbar nahe ein völlig Fremder einem engen Freund manchmal ist. Beiden erzählt man von Dingen die man keinem anderen beichten würde«, sagte Jo. Es war mehr ein laut gesprochener Gedanke.
»Vielleicht sind wir einander gar nicht so fremd, vielleicht sind wir enge Freunde, die sich noch nicht kennen gelernt haben«, entgegnete Benoît. Ebenfalls eher laut vor sich hin denkend.
Eine leichte Brise kam auf, strich raschelnd durch die Hecken, wirbelte ein wenig Staub auf und verwischte die Zeichnungen.
»Haben Sie Geschwister, Benoît?«
»Keine, so weit mir bekannt ist.«
Von der gegenüberliegenden Seite stöckelte eine Frau auf das kiesgraue Carré und setzte sich linker Hand auf einer Bank nieder, dem Platz an Noblesse ebenbürtig. Ganz in weiß, ganz elegant, ganz ihrer Ausstrahlung bewusst. Ein Hosenanzug, ein leichter Sommermantel, hochhackige Pumps, die Haare unter einem weit ausladenden Hut verborgen, die stolzen Züge dadurch wohl beschattet. Seit unendlichen Augenblicken das erste Zucken der Welt, das die Abschottung ihrer Zweisamkeit zu durchdringen, das Interesse auf sich zu lenken vermochte. Nun schlug sie die Beine übereinander, gab schlanke Fesseln zur Anbetung frei. Viele Meter entfernt und doch als säße sie zwischen ihnen.
»Sie ist wunderschön!«, flüsterte Jo.
»Beschreiben Sie sie mir, bitte«, flüsterte Benoît seinerseits.
Konzentriert, der Schwere seiner Aufgabe bewusst, tat Jo wie er gebeten worden war, bemüht um Worte, die mächtens waren der Dame Anmut auf Flügeln in den Himmel zu tragen, nicht unter ihrer Schönheit Last kläglich zu Boden niederzusinken.
»Belle!«, raunte Benoît vergessen, als kommentierte er das Bild in seinem Kopf. Er schnaufte einmal tief durch, dann schloss er die Schleusentore zum Diesseits und tauchte hinaus in eine ferne Gedankenwelt.
Irgendwo in der näheren Umgebung läuteten Kirchenglocken die volle Stunde, erst vier, dann drei Schläge. Noch zwei Stunden. Jo versenkte sich neuerlich in die Betrachtung seines Buches, die Hitze des Nachmittags übersprang den Schlagbalken der kühlen Enklave, die der Schatten inmitten des Sonnenreiches ausgerufen hatte. Menschen, Tiere, Pflanzen, Gedanken und Träume, alles und jedes, dessen die Glut habhaft werden konnte, wurde in einen Zustand schläfriger Trägheit versetzt und Jo wurden die Lider schwer und schwerer, sanken letztlich hinab, dem Auge ein Spiel aus Orange- und Rottönen offerierend.
Jo dämmert vor sich hin bis er, von plötzlicher Unruhe gepackt, die Lider wieder hob. Benoît rutschte, vor sich hin knurrend, auf seinem Platz hin und her, die Schleusentore zum Diesseits hatten sich wieder gehoben. Ein kurzer Blick in sein Gesicht und Jo musste erschreckt feststellen, dass eine vierte Drehung des Kaleidoskops die Hebung verursacht hatte. Eine letzte, wie sich unmittelbar darauf herausstellte, eine, die alles wieder auf Anfang drehte. Benoît erhob sich wortlos, ging zögernd ein paar Schritte, wandte sich dann noch einmal Jo zu: »Fahren Sie nach Hause, solange die Wahrheit noch Raum für Träume lässt. Kehren Sie um, derweil Sie noch wegzusehen vermögen. Wachen Sie auf, bevor aus Ihrem Traum ein Alptraum wird!«
»Benoît …?«, rief Jo ihm verstört nach. Aber Benoît sprach nicht mehr, Antwort gaben nur mehr seine sich entfernenden knirschenden Schritte im Kies.
Was sollte er von diesem Benoît halten? Von einem Mann, dessen Kleidung so sonderbar war wie seine Ansichten, der seine Gemütsverfassungen wechselte wie ein launiger Apriltag die Jahreszeiten - Winter, Frühling, Sommer und Herbst, alles in kaum einer Stunde. Frostig war er gekommen, frostig war er gegangen. Was wusste er? Er, der so ungern sprach und so aufmerksam zuhörte, als sei ebendies seine Profession. Was wusste Benoît, das er nicht wusste?
Dünn und dünner wurde der Geduldsfaden, die Ungewissheit nagte stetig daran. Reflexartig ergriff Jo das Buch, hob es vor die Augen. Wenn in Pater Frédéric’s Worten nur ein Funken Wahrheit gesteckt hatte, dann fanden sich hierin Antworten auf all seine Fragen, schwarz-auf-weiß. Noch zauderte er, so verlockend die Aussicht war, so beängstigend war sie auch. Sollte er oder sollte er nicht? Die Gedanken drehten sich unablässig wie Fähnchen im Wind, Spielbälle Zephirs. Unfähig einen Entschluss zu fällen, ließ Jo den Blick umherschweifen.
Sie sah herüber, lächelte ihn an, als sei er ein Passbildautomat. Eindeutig ihm galt ihr Lächeln, niemand anderer war zugegen. Er legte das Buch zur Seite und ihre Blicke verschränkten sich ineinander und Jo fühlte sich taxiert. Genau wie von Pater Frédéric, vom Mann ohne Namen, von Benoît und doch ganz anders. Ein letzter, ein reizender Blick, dann erhob sie sich und verließ den Platz wie sie ihn betreten hatte: ganz in weiß, ganz elegant, ganz ihrer Ausstrahlung bewusst.
Lange sah Jo ihr nach, noch als ihr wehender Mantel längst im Dunkel einer Galerie verschwunden war und nicht zurückkehrte. In der Rückenlehne der Bank hing ein luftig leichtes Stück Stoff, ein seidenes Halstuch. Schlaff hing es herab, als weigerte sich der Wind mit ihm zu spielen. Jo ging die zehn Schritte hinüber, sah einmal rundum, dann pickte er geschwind den Schal aus den hölzernen Stäben. Ein Gefühl, als pflückte er die verbotene Baumfrucht von den Zweigen. Erst in der Anonymität der Metrostation wagte Jo davon zu kosten. Oh wie süß und schwer war dieser Duft, wie dünn und leicht der Stoff. Auf der Haut ein gesponnenes Versprechen, auf den Lippen der Kuss eines Engels. Die Sinnen benebelt, vergaß Jo momenteweise den Grund seines Aufenthaltes. Eine dichte Menschenmenge drängte in die Röhren, eine Nasevoll des betörenden Dufts mit sich bringend. Hektisch wandte Jo den Kopf nach links und rechts. Sie war in der Nähe. Mehr Menschen strömten herein, die Enge nahm zu, die Intensität des Duftes ebenfalls, ein Schubsen, ein Stolpern, eine Hand im Rücken, dann waren Menschen und Duft vorübergezogen und Jo stand wieder allein im Eingang der Station. Aus einem der Gänge hallten kristallhelle Schläge, Takk … Takk … Takk, immer leiser werdend, Takk … Takk … Takk, in stoischem Gleichmaß schlug Metall auf Keramik, ein Gehstock auf die Fliesen.
Es war erst kurz nach halb vier, eineinhalb Stunden früher als geplant. Um weitere Zeit totzuschlagen mangelte es ihm an Werkzeug, zudem gab es keinen triftigen Grund länger zu warten. Diese Uhrzeit war ebenso gut oder schlecht wie eine spätere. Konzentriert widmete sich Jo dem Linienplan, fuhr mit dem Finger die Strecke ab: die Linie 2 bis Belleville, die 11 bis Jourdain, das restliche Stück zu Fuß.
Kaum eine Viertelstunde später schritt Jo erneut durch die Rue du Borrégo, näherte sich dem Haus mit der Nr. 182. Die Straße war noch belebter als am Morgen, den Eindruck einer Dorfstraße verstärkend. Trotz zweimaligen Klingelns blieb die Haustür auch dieses Mal geschlossen, obschon Stimmen und Musik aus dem Wohnungsinneren nach draußen drangen. Ein drittes, ein viertes Klingeln, dann flog die Tür mit einem Ruck auf und das feucht glänzende Gesicht einer jungen Frau erschien im Rahmen. Ein Baby hing ihr vor der Brust, ein zweites kam auf allen Vieren durch den Flur gekrabbelt, ein drittes brüllte im uneinsehbaren Teil der Behausung. Ein Schwall dicker Luft waberte an der jungen Frau vorbei, suchte ihren Weg ins Freie. Nach saurer Milch roch sie, nach altem Schweiß und kaltem Rauch.
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